Freitag, 19. April 2024

Jonas Deichmann erlebt eine besondere Grenzerfahrung

„Good luck, crazy guy!“ Bis Jonas Deichmann diesen erlösenden Satz hörte, war es ein zähes Ringen. Nicht nur die drei Monate zuvor, die der Abenteurer auf seinem Triathlon rund um die Welt auf das für ihn so wichtige Russlandvisum wartete. Selbst die Tage, Stunden und Minuten vor der Grenzüberfahrt wurden zur Geduldsprobe. Trotz Visum war die Einreise in das größte Land der Welt nicht ohne Weiteres möglich. Es war eine Grenzerfahrung der besonderen Art.

Endlich hält Deichmann das Visum in den Händen

Die gute Nachricht für sein Projekt hatte den 33-Jährigen am Montag erreicht: Nach tagelanger Warteschleife im ukrainischen Charkiw, die Deichmann mit Radausfahrten und Ausritten auf dem Pferd verbracht hatte, durfte er endlich seinen Pass mit dem Russlandvisum in Empfang nehmen. Der hatte nach tagelanger Irrfahrt und Hindernissen wie Dacheinsturz im Logistikzentrum und Streik am Frankfurter Flughafen den Weg in die 1,5-Millionen-Einwohner-Stadt gefunden. „Als ich per Tracking absehen konnte, dass der Pass mit dem Visum am Montag ankommt, habe ich noch am Sonntag einen Coronatest gemacht. Das lief ganz unkompliziert und ich hatte innerhalb weniger Stunden das Ergebnis.“

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Grenzposten bremsen ihn erneut aus

Mit negativem Testergebnis machte sich Deichmann noch am Montagnachmittag auf den Weg zur 40 Kilometer entfernten Grenzüberfahrt. „Das ist eine schnurgerade Straße, die normalerweise stark befahren ist und zu einem der Hauptgrenzübergänge zwischen beiden Ländern führt. Da aber außer ein bisschen Warenverkehr, Russen und Ukrainern, die Verwandtschaft in Russland haben, niemand über die Grenze darf, war die Straße komplett leer“, berichtet Deichmann. Abends um 18.30 Uhr erreichte er den Posten auf ukrainischer Seite, in der Dunkelheit. Er wollte auf seinem Abenteuer keine Zeit verlieren – und wurde einmal mehr ausgebremst.

privat Endlich: Jonas Deichmann hält seinen Pass mit Visum in der Hand.

Neue Follower auf Instagram sind russische und ukrainische Soldaten

„Die Soldaten waren super und haben einfach nur gestaunt: Was macht der hier auf seinem Fahrrad? Ich glaube, ich bin der erste Radfahrer seit März 2020, der über die Grenze fährt. Die folgen mir jetzt alle auf Instagram und wollten noch ein Selfie mit mir machen“, verrät Deichmann, der sowohl auf ukrainischer als auch auf russischer Seite entlang des Kilometer langen Grenzbereichs je vier Mal seinen Pass vorzeigen musste. „Die haben mich immer auf russisch so etwas gefragt wie: Wohin geht’s? Ich habe immer nur geantwortet: velosipede Vladivostok.“ Deichmanns kurze und freie Übersetzung für: mit dem Rad nach Wladiwostok.

Einen Meter vor Russland heißt es: umkehren

Die Grenzposten jedenfalls verstanden den Abenteurer. „Die haben alle nur gelacht. Bei aller Bürokratie waren die super freundlich. Ich bin durchgelassen worden – bis zum letzten Häuschen, einen Meter vor russischem Boden. Dort war eine letzte Kontrolle. In meinem Pass steht ja das Olympische Komitee als Gastgeber drin, das hat Eindruck hinterlassen. Ich hatte noch ein Einladungsschreiben dabei, das haben die sich angeschaut und trotzdem mehr als zwei Stunden herumtelefoniert. Keiner von denen wusste, ob sie mich wirklich rüberlassen dürfen; die haben dort so strenge Auflagen. Irgendwann hat mich einer von denen ins Häusle zu sich gelassen, weil es draußen Minusgrade hatte. Nach zwei Stunden hieß es, sie dürfen mich nicht rüberlassen. Visum und Einladungsschrieben seien in Ordnung, aber es gibt eine Liste vom Innenministerium, die täglich aktualisiert an die Grenze geschickt wird. Auf der stehen die Namen aller Personen, die mit Ausnahmegenehmigung rüber dürfen“, berichtet Deichmann. Die Grenzüberfahrt wurde nicht genehmigt.

privat Nächtliches Lager nahe der Grenze: In einem Feld zeltete Jonas Deichmann, bevor er den zweiten Einreiseversuch startete.

Keine Grenzüberfahrt: „Ziemlich deprimierend“

Sein Projekt erfuhr die nächste Vollbremsung. „Ich musste zurück. Das war für mich ziemlich deprimierend, nachdem ich drei Monate lang eigentlich auf den Moment der Grenzüberfahrt gewartet hatte. Da wird einem ein bisschen anders nach drei Monaten Vorbereitung – es gab ja keine Alternative zu Russland. Wenn ich nicht reingekommen wäre, hätte ich nach Europa zurückfahren müssen. Auf der ukrainischen Seite hinter der Grenze gab es direkt ein kleines Restaurant, in dem ich etwas Kleines essen konnte. Ich bin dann zwei Kilometer zurück gefahren, weil die Grenzregion nicht die sicherste Gegend ist, und habe dort in einem Feld gezeltet.“ Zunächst allerdings hatte Deichmann noch einmal seine Kontakte nach Russland spielen lassen. „Ich habe abends allen Bescheid gesagt, die haben sich dann darum gekümmert, dass ich am nächsten Tag auf der Liste stehen soll.“

Letzter Name auf der Liste der Ausnahmegenehmigungen

Am Dienstagmorgen fuhr der Extremsportler dann erneut zur Grenze. „Ich hatte gegen halb zehn ein 50-seitiges PDF-Dokument vom Innenministerium erhalten“, so Deichmann. Es war die Liste mit den Namen der Personen, die eine Ausnahmegenehmigung erhalten. „Da stand ich als Letzter drauf, mit dem Grenzübergang, an dem ich einreise. Es kann also auch alles ganz schnell gehen.“

privat Wichtiger Hinweis für den Abenteurer: die Geschwindigkeitsbegrenzungen auf russischen Straßen.

Zurück an der Grenze ließen die Ukrainer den Deutschen erneut problemlos passieren. „Auf russischer Seite haben die sich das Dokument sehr sorgfältig angeschaut und mich in einen Raum geführt, damit ich drinnen warten kann. Draußen hat es geschneit. Die waren wieder super freundlich und haben sich gut um mich gekümmert. Ich musste aber noch einmal drei oder vier Stunden warten, weil die alle möglichen Leute angerufen haben, um abzuklären, ob das wirklich legitim ist. Irgendwann haben die mich rübergelassen.“

Russlands Hauptstraßen werden zum Abenteuer: „Todesfalle für Radfahrer“

Der Start in Russland verlief nach der Grenzüberfahrt wie erwartet. Es schneite. „Das waren wirklich üble Bedingungen mit Schneematsch auf der Straße und knapp unter null Grad. Ich hatte erstmal zehn Kilometer eine große Straße ohne Verkehr für mich, bin dann aber auf kleine Straßen abgebogen und seitdem dort unterwegs.“ Der Abenteurer kennt die Verkehrsverhältnisse in Russland von früheren Trips. „Bis zur Wolga sind die Hauptstraßen wegen des Lkw-Verkehrs quasi eine Todesfalle für Fahrradfahrer. Es gibt keinen Platz auf den Straßen und die haben keinen Respekt. Mit dem Schnee am Straßenrand wird es noch enger. Ab der Wolga wird es etwas besser. Aber wirklich sicher und schön wird Russland erst ab dem Uralgebirge. Deshalb mache ich jetzt trotz Zeitdruck ein paar Umwege“, betont Deichmann.

privat Schnee, so weit das Auge reicht. Die Bedingungen in Russland sind eine Herausforderung.

Winterausrüstung hält Bedingungen stand

Gemessen an den vergangenen Wochen überschlagen sich seit der Einreise nach Russland die guten Nachrichten. Die Straßenverhältnisse sind schlagartig besser, Schlaglöcher sind zur Seltenheit geworden. Das Streckenprofil ist leicht hügelig, sodass der Abenteurer gut vorankommt – obwohl es permanent schneit. „Das macht mir dank meiner Winterausrüstung wenig aus. Meine Schuhe und Handschuhe halten warm und trocken. Ich habe am Donnerstag 155 Kilometer geschafft und werde am Dienstag wohl an der Wolga sein.“

Neuer Zeitplan bis Wladiwostok

Einen Zeitplan für sein Projekt hat Deichmann bereits ausgearbeitet. Das Visum läuft bis Mitte Mai, dann muss er Wladiwostok in Richtung USA verlassen haben. „Ich müsste einen Tagesdurchschnitt von 180 Kilometern fahren, um das zu schaffen. Ich habe derzeit aber noch grobstollige Reifen drauf und viel Gepäck dabei. Es wird auch noch früh dunkel. Ich plane aktuell also mit 150 bis 160 Kilometern pro Tag. Ab dem Ural wird es noch einmal etwas kälter, dann kommt aber der Frühling und es wird später dunkel. Da kann ich den Schnitt auf 200 Kilometer hochfahren und Anfang Mai im Endspurt nach Wladiwostok vielleicht auch 250 Kilometer schaffen. Dann sollte ich dort sein, bevor mein Visum ausläuft, um auf ein Boot zu steigen.“

„Ich gegen Sibirien“ heißt das aktuelle Abenteuer

Deichmann ist regelrecht beflügelt davon, mit der Grenzüberfahrt das bürokratische Abenteuer hinter sich gelassen zu haben und sich wieder auf das Sportliche konzentrieren zu können. „Ich bin super happy. Jetzt liegt es an mir: Ich gegen Sibirien.“ Oder wie der russische Grenzbeamte sagte: „Good luck, crazy guy.“

Jonas Deichmann berichtet auf tri-mag.de regelmäßig in Tagebuchform von seinem Triathlon rund um die Welt. Weitere Informationen zu seinen bisherigen Abenteuern sowie ein Livetracker zu seinem Triathlon rund um die Welt finden sich auf seiner Website jonasdeichmann.com.

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Bengt Lüdke
Bengt Lüdke
Bengt-Jendrik Lüdke ist Redakteur bei triathlon. Der Sportwissenschaftler volontierte nach seinem Studium bei einem der größten Verlage in Norddeutschland und arbeitete dort vor seinem Wechsel zu spomedis elf Jahre im Sportressort. In seiner Freizeit trifft man ihn in Laufschuhen an der Alster, auf dem Rad an der Elbe – oder sogar manchmal im Schwimmbecken.

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