Samstag, 20. April 2024

Kontrolle statt Glücksspiel

Getty Images for Ironman

„Ich habe total überzockt.“ Dieser Satz ist regelmäßig nach Rennen im Zielbereich zu hören. Das Ergebnis dieses Rennens ist für die betroffenen Athleten meist nicht zufriedenstellend – oder zumindest nicht so, wie es mit einem optimalen Pacing hätte sein können. Als Pacing bezeichnet man, vereinfacht gesagt, wie sich ein Athlet die Kräfte während eines Wettkampfs oder einer Trainingseinheit einteilt. Die Strecke kann beispielsweise in einem bewusst gleichmäßigen Tempo zurückgelegt werden, mit Attacken zwischendurch oder einer Tempoverschärfung auf den letzten Kilometern. Egal für welche Variante du dich entscheidest, bleibt das Ziel stets das gleiche: Du willst möglichst schnell von A nach B kommen, ohne dabei extrem einzubrechen. Idealerweise bist du für das Zielfoto noch zu einem Lächeln imstande und kannst dennoch behaupten, alles gegeben zu haben. Das klingt einfacher, als es ist, denn Triathlon ist eine ebenso vielseitige wie komplexe Sportart und es gibt mehrere Szenarien und Voraussetzungen, die hinsichtlich des optimalen Pacings berücksichtigt werden müssen.

Immer Vollgas?

Wenn ein Wettkampf bevorsteht, musst du dir unbedingt über deine eigene Leistungsfähigkeit im Klaren sein und dir dementsprechend eine Art Schlachtplan überlegen, wie du an die einzelnen Disziplinen herangehen willst. Das tust du unabhängig davon, was genau du dir vorgenommen hast und in welchem Teil des Feldes du dich bewegst. Du solltest vermeiden, nach dem Start einfach draufloszustürmen und dich von den Mitstreitern, der Stimmung und deiner eigenen Nervosität zu sehr leiten zu lassen. Je länger die Wettkampfdistanz ist, desto mehr könnte dir eine solche Vorgehensweise zum Verhängnis werden. Bei einer kurzen Renndauer, etwa bei einer Sprintdistanz oder einem Start in der Liga mit deinem Team, sieht das anders aus. Da hast du keine Zeit, dich zurückzuhalten, und wer weniger als 100 Prozent gibt, verliert schnell den Anschluss. Die Strategie des richtigen Pacings ist daher klar: Alles auf die Straße bringen, was geht. Dass das hart wird, steht ebenfalls fest, und es kann durchaus sein, dass du dich im Ziel an der „Kotzgrenze“ befindest, wenn du ganz vorn mitmischt Selbst wenn du zum Ende des Rennens einbrichst, wird dich das im Normalfall nicht daran hindern, dieses noch zu beenden. „Auf der Kurzdistanz kann man von einem metabolischen Pacing sprechen. Die Gründe für einen Einbruch haben dann nichts mit fehlender Energie zu tun, sondern sind bedingt durch eine zu starke Übersäuerung der Muskulatur“, erklärt Coach Björn Geesmann. Dass bei solch intensiven Belastungen Laktat aufgebaut wird, ist normal und unvermeidbar, denn du bist über deiner persönlichen Schwellenleistung unterwegs, bei der sich der Auf- und Abbau der Milchsäure noch die Waage halten würden. Langfristig führt dies zu einem Leistungseinbruch. „Die Laktatbildung sollte man bedenken, doch bis es wirklich kritisch wird, ist man schon im Ziel“, so Geesmann.

- Anzeige -

Wird die Distanz beziehungsweise die Renndauer länger, gewinnen energetische Faktoren an Bedeutung und müssen beim Pacing berücksichtigt werden. Das beginnt bereits bei der olympischen Distanz. „Ich würde hier auf jeden Fall empfehlen, Kohlenhydrate zuzuführen“, sagt der Coach. „Wenn die Glykogenspeicher vorher gut gefüllt sind, werden sie im Rennen zwar nicht geleert, doch die Zufuhr hilft dabei, die vorhandenen Kohlenhydrate aus den Speichern freizusetzen.“ Wie viel du benötigst, hängt zum einen von der Verträglichkeit ab und zum anderen davon, wie lange du unterwegs bist. Orientieren kannst du dich an 60 bis 90 Gramm Kohlenhydraten pro Stunde, was etwa drei Gels entspricht. Wenn du diese auf dem Rad zu dir genommen hast, kannst du bei Bedarf noch eines vor oder zu Beginn des Laufens nachlegen, um dir den letzten Schub bis zum Ziel abzuholen. „Beim 10-Kilometer-Lauf reicht es auch völlig, noch einen Schluck Cola oder Red Bull zu trinken, nur um dem Körper das Signal zu geben, dass wieder Energie nachkommt“, sagt Geesmann. Auf der olympischen Distanz kannst du immer auch ein ge-wisses Risiko eingehen. Wenn du weißt, wie schnell du zehn Kilometer isoliert läufst, lässt sich das als Anhaltspunkt für den Triathlon nehmen. Solltest du feststellen, dass du ein zu schnelles Tempo gewählt hast, ist es in jedem Fall nicht mehr weit bis ins Ziel und es steht außer Frage, dass du dieses erreichst.

Bei der Mittel- und Langdistanz sieht das Ganze etwas anders aus. Mit durchgetretenem Gaspedal wirst du nicht weit kommen, der Einbruch ist dann programmiert. „Auf den längeren Distanzen braucht man nicht über das Pacing zu sprechen, ohne die Energieversorgung einzubeziehen“, verdeutlicht Björn Geesmann. Grundsätzlich kannst du dich etwa in der Intensität deines G2-Bereichs bewegen – aber eben nur, wenn du deinen Kohlenhydratverbrauch kennst oder zumindest weißt, wie viel du zuführen kannst, um die Leistung aufrechtzuerhalten. Bei einer Leistungsdiagnostik lassen sich der Verbrauch und die erforderliche Aufnahme exakt bestimmen, anderenfalls musst du dich nach dem Prinzip „Trial and Error“ an dein persönliches Optimum herantasten.

Individualität beachten

Dass pauschale Empfehlungen à la „Fahre im Wettkampf bei 80 Prozent deiner Schwellenleistung“ und einem daraus resultierenden fixen Wattwert nicht funktionieren, ohne die physiologischen Vorausset-zungen zu kennen, verdeutlicht ein Beispiel: Verglichen werden zwei „baugleichen“ Athleten: Sie sind gleich groß und schwer und haben die gleiche anaerobe Schwellenleistung (FTP). Athlet A hat jedoch einen höheren Kohlenhydratverbrauch als Athlet B. Bei einer vorgegebenen Leistung würde er also vermutlich mehr verbrauchen, als er zuführen kann, und bricht entweder ein oder bekommt Magenprobleme. Wenn man sich beim Entwickeln der Pacing-Strategie hingegen am individuellen Kohlenhydratverbrauch orientiert, der gut ausgeglichen werden kann, kann Athlet B dabei 230 Watt treten, Athlet A jedoch nur 220 Watt. „Die Unterschiede müssen nicht exorbitant groß sein“, weiß Björn Geesmann. Über die gesamte Renndauer könne sich das jedoch sehr wohl deutlich auswirken. „Wer bei einer fixen Leistung pro Stunde nur 70 Gramm Kohlenhydrate verbraucht, wird energetisch keine Probleme bekommen. Wenn es aber 100 Gramm sind, lässt sich das nicht mehr so leicht auffüllen“, sagt er. Das Pacing anhand des individuellen Kohlenhydratverbrauchs ist zwar sehr genau, aber kein Muss. Es gibt noch mehrere weitere Parameter, denen du Beachtung schenken solltest.

Racen mit Gefühl

Auf der Sportuhr oder dem Radcomputer kannst du dir nahezu unzählige Metriken anzeigen lassen, die dich darüber informieren sollen, wie gut oder schlecht es gerade läuft. Das kann gleichzeitig auch verunsichern. Herzfrequenz, Pace oder Watt – ja, was denn nun? Die Antwort mag unbefriedigend sein: Die eine richtige Variante des Pacings gibt es nicht. „Wenn man sich an den Zahlen auf der Uhr orientiert, sollte man das immer im Zusammenhang tun“, rät Björn Geesmann. Das heißt: Bei der Wattzahl auf dem Rad oder den Minuten, die du beim Laufen pro Kilometer benötigst, solltest du stets auch einen Blick auf die Herzfrequenz werfen. „Dazu muss man vor allem eine genaue Vorstellung über die eigene Leistungsfähigkeit haben. Kann ich den Halbmarathon in 1:45 Stunden laufen oder eher in 2:00 Stunden? Das darf am Renntag keine Frage mehr sein“, so der Coach. Die Trainingsergebnisse und Einzelleistungen der Disziplinen seien zur Beantwortung dieser Frage wertvolle Hilfen. Geesmann empfiehlt außerdem, sich stets an einem abgesteckten Bereich anstatt einem definierten Wert zu orientieren – sei es nun die Wattzahl, die Geschwindigkeit oder Herzfrequenz. In diesem „Korridor“ kannst du flexibel agieren und gerätst bei Abweichungen nicht in Panik. Wichtig ist, dass du diesen gesamten Bereich sprichwörtlich im Schlaf beherrscht und dich wohl dabei fühlst. Damit das gelingt, heißt es im Training: üben und immer wieder verschiedene Tempi sowie Leistungsbereiche abrufen. Du kannst dann genau einschätzen, wie sich welches Tempo anfühlt und wie sich die Herzfrequenz dabei verhält. Sinnvoll ist diese Methode auch, wenn du dein Radtraining auf der Rolle absolvierst, „in freier Wildbahn“ jedoch keinen Wattmesser nutzt.

Zum Stichwort Körpergefühl hat Geesmann eine klare Meinung: „Es ist ein wesentlicher Bestandteil des Pacings und sollte nicht vernachlässigt werden.“ Im Training kannst du es schulen, indem du den Radcomputer in der Trikottasche verstaust oder dir zumindest die Leistung und Geschwindigkeit nicht anzeigen lässt. Fahre nach Gefühl mit „Zug auf der Kette“ und so, wie du dir das im Wettkampf ebenfalls zutrauen würdest. Im Anschluss kannst du dein Gefühl mit den tatsächlich aufgezeichneten Daten vergleichen. Denke daran, dass im Rennen oft etwas mehr möglich ist, als du dir das vorher ausmalen kannst. Das Körpergefühl wird außerdem entscheidend, wenn es um die spezifischen Anforderungen deines Events geht. Die Topografie, die Wetterbedingungen und die Renndynamik kannst du nur bedingt vorhersehen und nicht komplett durchplanen.

„Wenn es sehr heiß ist, würde ich nicht empfehlen, von vornherein die Leistung zu reduzieren – selbst wenn die Herzfrequenz etwas erhöht sein sollte. Wenn man sich gut fühlt und auf eine ausreichende Kühlung achtet, ist alles in Ordnung“, sagt der Trainer. Andersherum darfst du dir erlauben, Energie zu sparen, wenn du dabei gut vorankommst. Im Feld der Altersklassenathleten wirst du höchstwahrscheinlich auf dem Rad in einer Gruppe mit mehreren Athleten unterwegs sein – selbstverständlich mit dem vorgeschriebenen Abstand. Davon kannst du profitieren. „Wenn man ein paar Watt spart und dabei in der Geschwindigkeit unterwegs ist, die man sich ungefähr vorgenommen hat, gibt es keinen Grund, die Leistung zu erhöhen, nur um einen bestimmten Wert zu erreichen“, so Geesmann. Mache dir das Pacing nicht komplizierter, als es ist. Nutze Metriken als Anhaltspunkte und eigne dir ein Körpergefühl an, auf das du dich verlassen kannst. Denn das kann starren Vorgaben unter Umständen deutlich überlegen sein.

Fehler gefunden? Bitte teile uns hier mit, was wir verbessern können!

Für öffentliche Kommentare und Diskussionen nutze gern die Funktion weiter unten.

- Anzeige -
Anna Bruder
Anna Bruder
Anna Bruder wurde bei triathlon zur Redakteurin ausgebildet. Die Frankfurterin zog nach dem Studium der Sportwissenschaft für das Volontariat nach Hamburg und fühlt sich dort sehr wohl. Nach vielen Jahren im Laufsport ist sie seit 2019 im Triathlon angekommen und hat 2023 beim Ironman Frankfurt ihre erste Langdistanz absolviert. Es war definitiv nicht die letzte.

Verwandte Artikel

Herzfrequenzvariabilität: Nützlicher Indikator für die Trainingssteuerung

Sie ist aus dem Triathlontraining mittlerweile nicht mehr wegzudenken: die Herzfrequenzvariabilität. Was lässt sich aber aus den Werten ablesen? Und wie richtest du dein Training danach aus?

Anne Haug beim Ironman Lanzarote: „Hatte mir geschworen, dieses harte Rennen nie im Leben zu machen“

Auch als Hawaii-Zweite muss Anne Haug ihren Start bei der Ironman-WM 2024 in Nizza zunächst validieren. Dafür hat sie sich mit dem Ironman Lanzaorte einen der härtesten der Welt ausgesucht.

ePaper | Kiosk findenAbo

Aktuelle Beiträge

Mehr lesen und erleben mit triathlon+

Triathlon ist mehr als Schwimmen, Radfahren und Laufen. Mit der Mitgliedschaft bei triathlon+ erlebst du den schönsten Sport der Welt so umfangreich wie nie zuvor. Wir haben drei attraktive Modelle für dich: Mit dem Monatsabo hast du die volle Flexibilität. Mit dem Halbjahresabo kannst du unseren Service umfangreich testen und mit dem Jahresabo sparst du bares Geld.

Monatsabo

9,95 -
Jetzt mitmachen bei triathlon+
  • volle Flexibilität
  • € 9,95 pro Monat
  • monatlich kündbar
Empfehlung!

Jahresabo

89,95 -
Größte Ersparnis bei triathlon+
  • Mindestlaufzeit 12 Monate
  • danach monatlich € 9,95
  • nach 1 Jahr monatlich kündbar

Halbjahresabo

39,95 -
Ein halbes Jahr zum Vorteilspreis
  • Mindestlaufzeit 6 Monate
  • danach monatlich € 9,95
  • nach 6 Mo. monatlich kündbar