Eine gesunde Ernährung und ein athletischer Körper sind für Topleistungen im Sport unabdingbar. Doch was ist, wenn das Essverhalten zwanghaft wird? Essstörungen sind ein Tabuthema und kommen dennoch immer häufiger vor. Der Entstehungsprozess ist oft schleichend, die gesundheitlichen Folgen sind dramatisch.
Essstörungen können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein, doch die zwei Krankheitsbilder der Magersucht und Bulimie müssen insbesondere im Zusammenhang mit Ausdauersport genauer betrachtet werden. Die lateinischen Fachbegriffe „Anorexia nervosa“ für Magersucht und „Bulimia nervosa“ für Bulimie verdeutlichen bereits, dass es sich um psychische Krankheiten handelt – wörtlich übersetzt handelt es sich um eine nervliche Appetitlosigkeit beziehungsweise nervlichen Heißhunger.
Die Ursachen dieser Erkrankungen sind extrem vielschichtig. Betroffene sind häufig perfektionistisch veranlagt und finden mit der Krankheit eine Möglichkeit, Kontrolle über den eigenen Körper zu erlangen und somit das Selbstbewusstsein zu steigern. Im Gegensatz zu psychisch bedingten Auslösern sind die Auswirkungen von Essstörungen körperlicher Natur. Diese können gravierend sein: Eine Magersucht endet bei etwa zehn Prozent der Erkrankungsfälle tödlich und kann nur bei etwa der Hälfte vollständig geheilt werden. Betroffene streben nach einem dünnen Erscheinungsbild, das sie mit allen Mitteln erreichen wollen.
Ist ein noch eine Diät oder schon eine Krankheit?
Das Gewicht ist auch der Faktor, mit dem eine Magersucht klinisch diagnostiziert wird. Ausschlaggebend ist der Body-Mass-Index (BMI). Er wird berechnet, indem man das Körpergewicht durch die Körpergröße in Metern zum Quadrat dividiert. Ein Ergebnis zwischen 18,5 und 25 steht für Normalgewicht, der kritische Wert für eine Magersucht liegt bei 17,5 beziehungsweise darunter. Hier kommt es häufig zu einer sogenannten Körperschemastörung, bei der sich die Erkrankten mit einer gestörten Selbstwahrnehmung auch im extremen Untergewicht noch als zu dick empfinden und panische Angst vor einer Gewichtszunahme haben.
Diese psychischen Symptome sind bei einer Bulimie sehr ähnlich. Während Magersüchtige durch eine extrem niedrige Kalorienzufuhr, exzessiven Sport, den Missbrauch von Abführmitteln, Erbrechen oder durch eine Kombination aus alldem ihr Gewicht immer weiter reduzieren, haben Bulimie-Patienten mit regelmäßigen Fressanfällen zu kämpfen. Diese Anfälle haben nichts mit „ein bisschen über die Stränge schlagen“ zu tun, wie es wohl jeder mal von den Feiertagen oder besonderen Anlässen kennt. Bei einer Bulimie werden innerhalb eines kurzen Zeitraums unkontrolliert große Mengen gegessen, die schnell einmal 10.000 Kilokalorien haben können. Der Kontrollverlust verstärkt wiederum die Angst vor einer Gewichtszunahme und es wird mit Erbrechen versucht, den Kalorienüberschuss auszugleichen. Bei einer Bulimie liegt kein Untergewicht vor, was eine Diagnose umso schwerer macht.
Was ist eine „sportinduzierte Magersucht“?
Eine weitere Essstörung ist die sogenannte Anorexia athletica, also eine sportinduzierte Magersucht, die allerdings klinisch nicht als Krankheit anerkannt und klassifiziert ist. Eine Athletin oder ein Athlet strebt ein möglichst niedriges Gewicht an, das jedoch gleichzeitig zu einer Verbesserung der sportlichen Leistung führen soll. Der Gewichtsverlust wird zwar gezielt herbeigeführt, ist aber zeitlich begrenzt geplant, beispielsweise vor dem Saisonhöhepunkt. Danach wird zum gewohnten Essverhalten zurückgekehrt und auch eine Gewichtszunahme akzeptiert. Das klingt erst einmal unproblematisch. Wenn sich auf dieser Gratwanderung allerdings alles nur noch um Kalorien, die Makronährstoffverteilung und den Körperfettanteil dreht, ist die Gefahr groß, dass die vermeintliche Selbstbeherrschung außer Kontrolle gerät und sich aus der gewünschten Leistungssteigerung eine Krankheit entwickelt.
Perfektionistische Ansprüche in Zeiten von Social Media
„Gar nicht so wenige der Athleten, die ich betreue, machen sich Gedanken um ihr Gewicht“, sagt Caroline Rauscher. Die Ernährungsexpertin betreut Profi- und Hobbysportler und sorgt dafür, dass sie mit einer optimalen Nährstoffzufuhr an der Startlinie stehen. Anders als bei klassischen Essstörungen, von denen Frauen deutlich häufiger betroffen sind als Männer, ist diese Verteilung bei Athleten anders. Caroline Rauscher kann das bestätigen: „In meiner täglichen Arbeit sind es oft eher Männer, die sich sehr intensiv mit ihrem Körpergewicht auseinandersetzen und immer mehr abnehmen wollen, obwohl sie schon schlank sind.“
In einigen Sportarten ist ein niedriges Gewicht grundsätzlich vorteilhaft und mit einer besseren Leistung verbunden. Ausdauersport gehört dazu – wer wenig Körperfett hat, läuft schneller. Das ist nicht per se falsch, doch Verallgemeinerungen können gefährlich sein. „Der optimale Körperfettanteil ist sehr individuell und sollte nicht mit aller Gewalt so niedrig wie möglich gehalten werden“, sagt auch Caroline Rauscher.
Besonders in Zeiten von Instagram und Co. sind von solchen perfektionistischen Ansprüchen keinesfalls nur Profis betroffen. Durchtrainierte Körper können nicht nur in der Wechselzone, sondern auch rund um die Uhr im Internet bewundert werden. Das eigene Training und Aussehen werden hinterfragt und ständig verglichen – sei es mit Hawaii-Siegern oder dem fitten Trainingskollegen.
Alarmzeichen und Auswirkungen
Was anfangs noch zur Motivation beiträgt, kann schnell in einen selbst auferlegten Leistungsdruck umschlagen. Das sagt auch Professor Ulrich Voderholzer, ärztlicher Direktor der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee. Als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie hat er täglich mit essgestörten Patienten zu tun. „Diäten sind bei einer entsprechenden psychischen Veranlagung grundsätzlich ein Risikofaktor, eine Essstörung zu entwickeln“, so Voderholzer. Wenn sich alles nur noch um die vermeintlich perfekte Ernährung dreht, diese den Alltag bestimmt und vielleicht sogar soziale Kontakte darunter leiden, sollten die Alarmglocken läuten. Auch die vielleicht anfangs positiven körperlichen Auswirkungen einer Ernährungsumstellung können sich ab einem gewissen Punkt ins Negative umkehren und zwanghaft werden. „Eine zunächst leistungsorientierte Gewichtsabnahme kann außer Kontrolle geraten und die Leistungsfähigkeit sinkt“, sagt Voderholzer.
Wenn Energieaufnahme und Energieverbrauch im Ungleichgewicht stehen
Die verminderte Leistungsfähigkeit ist nur der Anfang eines gefährlichen Teufelskreises und eines der ersten Anzeichen, bei dem die Ernährung und das Training hinterfragt werden sollten. Der Teufelskreis hat einen Namen: „Relative Energy Deficiency in Sports“, kurz RED-S-Syndrom. Die Grundproblematik besteht darin, dass Energieaufnahme und -verbrauch in einem Ungleichgewicht stehen – ob das Defizit bewusst herbeigeführt wird oder nicht, ist dabei erst mal egal. „RED-S ist nicht zwangsläufig mit einer psychisch bedingten Essstörung verbunden. Viele Athleten nehmen auch aus Unwissenheit zu wenige Kalorien auf“, sagt Caroline Rauscher. Die Konsequenzen seien letztendlich dieselben.
Durch ein dauerhaftes Kaloriendefizit gerät der gesamte Hormonhaushalt durcheinander und es treten Mangelerscheinungen auf. Besonders Schilddrüsen- und Sexualhormone sowie der Eisenstoffwechsel seien betroffen, so Ernährungsexpertin Rauscher. All diese Faktoren wirken sich wiederum auch auf den Bewegungsapparat und insbesondere die Knochengesundheit aus, was zu Ermüdungsbrüchen führen oder diese in Verbindung mit intensivem Training begünstigen kann. Regeneration und Muskelwachstum verschlechtern sich, das Immunsystem wird geschwächt. Langfristig können Osteoporose und auch Depressionen die Folge sein. Ein Modell, das dem RED-S-Syndrom vorausging, ist die sogenannte „Female Athlete Triad“, die sich nur auf Frauen bezieht und vornehmlich die Wechselwirkung aus geringer Energieverfügbarkeit, menstruellen Dysbalancen und der Knochengesundheit beschreibt.
Essstörungen – immer noch ein Tabuthema im Sport
Das RED-S-Syndrom schließt männliche und weibliche Athleten ein und verdeutlicht, dass sich eine Unterversorgung nicht nur auf die Gesundheit von Frauen massiv auswirkt. Yvonne van Vlerken, u. a. dreimalige Gewinnerin der Challenge Roth, hat die negativen Auswirkungen am eigenen Leib erfahren. Die heute 45-jährige Niederländerin beendete 2019 ihre Profikarriere und sprach alsbald danach offen über die Problematik, die im Sport nach wie vor als Tabu behandelt wird. „Das Thema wird häufig auf die leichte Schulter genommen. Selbst Ärzte haben mich nie auf die Gefahren hingewiesen“, sagt van Vlerken.
Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr die Zeit vor ihrem ersten Sieg bei der Challenge Roth 2007: „Mein damaliger Partner, ein sehr ambitionierter Hobbyathlet, hatte in seiner Jugend eine schwere Essstörung und eine ganz andere Ernährung als ich. Ich habe mich dadurch total unter Druck gesetzt und war nicht mehr ich selbst.“ Der jahrelange Leistungssport hat Spuren hinterlassen: Ein gestörter Hormonhaushalt und vorzeitige Wechseljahre haben Yvonne van Vlerken letztendlich zum Karriereende bewegt. Als Trainerin gibt sie nun ihr Wissen weiter und möchte insbesondere Frauen sensibilisieren. Ein Ereignis, das sie selbst wachgerüttelt hat, war das Verhalten einer Trainingspartnerin im Trainingslager. „Wir hatten einen sehr intensiven Tag hinter uns, an dem wir mehr als acht Stunden trainiert haben. Als wir beim Abendessen saßen und ich ihr Milchreis zum Nachtisch mitgebracht habe, hat sie richtig panisch reagiert und gesagt, dass sie das doch jetzt nicht essen könne“, erzählt van Vlerken.
Dem Teufelskreis entkommen
Was kann man tun, um der Negativspirale zu entkommen oder gar nicht erst hineinzugeraten? „Ab einem gewissen Punkt sollte professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden“, sagt Professor Voderholzer. Er kennt die Probleme seiner Patienten genau: „Wenn sich das Essverhalten und die Beschäftigung damit unmittelbar auf das Leben auswirken, ist eine Therapie ratsam“, sagt der Mediziner. Sie sei aber nur sinnvoll, wenn der oder die Betroffene motiviert ist, etwas am Verhalten zu ändern.
Voderholzer hat auch Erfahrungen mit Sportlern, die durch extremen Leistungsdruck krank geworden sind – sowohl psychisch als auch körperlich. Diese Erfahrungen zeigten, dass es ein erster nötiger Therapieschritt sei, die sportliche Aktivität stark einzuschränken oder sogar eine komplette Sportpause einzulegen, damit sich der Körper erholen könne, sagt Voderholzer. Das Trainingspensum ist in solchen Fällen ein weiterer Stressfaktor, der zu privaten und beruflichen Verpflichtungen hinzukommt.
Intensiv trainieren? Ja. Aber nicht gleichzeitig dabei abnehmen wollen!
Damit es dazu gar nicht erst kommt, ist es zunächst wichtig, alarmierende Verhaltensweisen zu erkennen und körperliche Anzeichen richtig zu deuten. Grundsätzlich sind Extreme problematisch. Auf das Gewicht und die Ernährung zu achten, ist in Ordnung, den Alltag davon bestimmen zu lassen, nicht. Intensiv und umfangsbetont zu trainieren ist kein Problem, diese Trainingsphasen aber gleichzeitig bewusst zum Abnehmen zu nutzen, schon.
Die Gesundheit sollte immer an erster Stelle stehen. „Die Signale des Körpers müssen unbedingt beachtet werden. Grenzen sollte man akzeptieren und sich nicht mit radikalen Diäten darüber hinwegsetzen“, betont Caroline Rauscher. Wer sich antriebslos fühlt, im Training nicht vorankommt oder häufig verletzt ist, sollte nicht nur an Übertraining denken, sondern auch die Nährstoffzufuhr hinterfragen.
Minimalwert an Kilokalorien nicht unterschreiten
Schaut man sich die Studienlage an, scheint die Nährstoffzufuhr der entscheidende Faktor zu sein, um sämtliche Systeme in Balance zu halten. Die tägliche Kalorienmenge, die dafür notwendig ist, liegt bei mindestens 30 Kilokalorien pro Kilogramm fettfreier Masse. Bei einem Gewicht von 75 Kilogramm und 15 Prozent Körperfett wären das 1.920 Kilokalorien pro Tag. Das ist nicht allzu viel. Doch es handelt sich hierbei ja auch um einen Minimalwert, der keinesfalls unterschritten werden darf – sofern tatsächlich auf eine vernünftige Art und Weise das Gewicht optimiert werden soll. Neben einem Ernährungstagebuch gibt auch ein Blutbild Aufschluss über eine mögliche Unterversorgung, die dann bei Bedarf supplementiert werden muss.
Wichtig: Passe die Ernährung an den individuellen Bedarf an und orientiere dich nicht an unrealistischen Vorbildern. Die eigene Gesundheit sollte das kostbarste Gut sein und ein Sixpack oder eine Zahl auf der Waage sind es nicht wert, diese aufs Spiel zu setzen.
Alarmzeichen erkennen
Anhand der folgenden Merkmale kannst du überprüfen, ob du bereits ein problematisches Essverhalten hast oder gefährdet bist, eine Essstörung zu entwickeln.
- Gedanken kreisen ständig um Essen, Gewicht und Kalorien
- Vernachlässigung sozialer Kontakte
- Angst vor einer Gewichtszunahme
- gestörte Wahrnehmung des Körpers (Körperschemastörung)
- streng kontrollierte Nahrungsaufnahme
- selbst auferlegte Essensregeln, von denen man nicht abweichen kann (z. B. bei Essenseinladungen oder besonderen Anlässen)
- schlechtes Gewissen, wenn man glaubt, zu viel gegessen zu haben
Hilfe für Betroffene
Die gute Nachricht: Wer unter einer Essstörung leidet, kann Hilfe bekommen. Der erste Schritt zur Selbsthilfe ist, sich jemandem anzuvertrauen. Wer ein Problem erkennt und offen darüber spricht, kann hierbei die Motivation für eine Verhaltensänderung finden. Zahlreiche hilfreiche Informationen und Adressen finden Sie online, beispielsweise unter anad.de. Das Bundesinstitut für Sportwissenschaften hat sich konkret dem Thema „Essstörungen im Leistungssport“ angenommen und hierzu einen umfangreichen Leitfaden für Athleten und Trainer herausgegeben.
Wenn du in deinem Umfeld, etwa bei Trainingspartnern, auffällige Verhaltensweisen beobachten, solltest du das zur Sprache bringen. Wichtig ist hierbei, die Bedenken nicht als Vorwurf zu formulieren, sondern lediglich Beobachtungen zu schildern und durch Nachfragen Interesse zu signalisieren.