Ich saß vorhin neben Jolanda Annen, meiner Trainingskollegin aus der Schweiz, und wir beide haben darüber geredet, dass heute das Frauenrennen bei den Olympischen Spielen in Tokio gestartet wäre. Heute wäre der große Tag gewesen. Seltsam, wie schnell die Zeit nach der ersten Absage des ersten Rennens im März in Abu Dhabi vergangen ist. Vier Monate, in denen seitdem für alle alles nahezu auf dem Kopf steht. Diese Vehemenz und dass alle gleichsam betroffen sind, lässt mir das Ganze eigentlich nicht so schlimm erscheinen. Es geht ja allen gleich und schlimmer wäre es gewesen, wenn ich wegen einer Verletzung nicht hätte starten können. So sitze ich jetzt hier auf knapp 2.000 Metern Höhe in Livigno und hoffe, dass das Trainingslager auch noch für einen Wettkampf gut ist. Das WTS-Rennen in Hamburg ist noch nicht abgesagt, die EM in Tartu ist ein Ziel und vielleicht kann auch der Weltcup in Karlsbad starten. Was für eine komische Saison …
Eine Frage der Motivation
Aber ich will mich nicht beschweren. Mir persönlich geht es super. Ich hatte immer die Möglichkeit, alles zu trainieren. Ich muss zum Glück auch keine Existenzängste haben, bei denen man sich vielleicht die Frage stellen muss, ob man den Sport überhaupt noch weitermachen kann. Ich muss nur motiviert sein zu trainieren. Und auch das ist für mich irgendwie nicht besonders schwer, weil ich ja davon ausgehe, dass die Olympischen Spiele dann im kommenden Jahr ausgetragen werden – zumindest hoffe ich das sehr.
Über Motivation hatte ich vor zwei Wochen eine Video-Talkrunde mit 300 Mitarbeitern von SAP. Den Initiatoren ging es darum, den Mitarbeitern anhand einer Spitzensportlerin zu zeigen, wie man sich auch in schweren Zeiten motiviert. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, dort zu vermitteln, wie ich mich motiviere – oder anders: Ich glaube nicht, dass es so einfach zu übertragen ist, sich im normalen Leben wie ein Spitzensportler zu motivieren. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, wie sich solche Höhepunkte wie die Olympischen Spiele oder ein WTS-Rennen einfach auf das normale Arbeitsleben übertragen lassen.
Mit neuen Zielen vor Augen
Ich finde, dass es als Sportler auf hohem Level einfach ist, täglich zu trainieren und sich auch zu quälen oder sein ganzes Leben darauf auszurichten. Die Motivation, die einen antreibt, schöpft man da eben aus den großen Wettkämpfen, in die man seine gesamten Vorstellungen und Erwartungen legt. Ein Mensch im „normalen“ Arbeitsleben hat es da, finde ich, ungleich schwerer, in der vielleicht täglich wiederkehrenden Arbeit ohne besondere Ereignisse und allem Drumherum immer die Motivation zu finden. Das verlangt mir jedenfalls hohen Respekt ab und ich habe schon etwas Angst, wie es ist, wenn es mal bei mir irgendwann so sein wird. Aber bis dahin ist es hoffentlich noch lange hin. Jetzt treiben mich Tokio und auch Paris noch unheimlich an. Und ein nächstes nahes reizvolles Ziel habe ich auch schon. Ich darf vielleicht bei den deutschen Leichtathletikmeisterschaften über die 5.000 Meter starten. Wir wollen ausprobieren, direkt aus der Höhe zu dem Wettkampf in Braunschweig zu fahren und ich will mal meine Bestzeit deutlich nach unten schrauben. Deswegen bleibe ich noch eine Woche länger in Livigno – dann also vier Wochen im Trainingslager.
Wenn ich mir etwas für die nahe Zukunft wünschen könnte, dann wäre es – welche Überraschung – dass wir dieses dämliche Virus endlich irgendwie in den Griff bekommen können, sei es durch Impfung oder durch Medikamente, vielleicht ein naiver Wunsch.
Bis zum nächsten Mal – bleibt gesund!
Eure Laura