Samstag, 20. April 2024

400 Triathlons und kein Ende in Sicht

Wenn ein Mann mit 41 Jahren zum Triathleten wird, dann ist der weitere Ablauf ja ­eigentlich klar: ein bisschen austoben, Grenzen ausloten, sich von Fans und Familie feiern lassen und dann, nach ein paar wilden Jahren, mit guten Geschichten ruhmreich ­kürzertreten. Oder man macht es wie Gerhard Müller, springt bei einer Kurzdistanz ins kalte Wasser und wird dabei so dermaßen heiß, dass 31 Jahre später als Zwischenstand unfassbare 22.089 Rennkilometer in der sportlichen Biographie stehen – zusammengetragen bei 400 Triathlons auf allen Distanzen. Ein ­Karriereende? Nicht absehbar.

So einzigartig der Verlauf von Gerhard Müllers immer noch höchst aktiver Laufbahn ist, so klassisch war ihr Anfang: Hawaii im Fernsehen gesehen, vom ersten eigenen Triathlon geträumt, den Gedanken wegen des Schwimmens wieder verworfen, dann doch den Schritt gewagt und sofort verliebt. Passiert im Jahr 1988 in seiner Heimatstadt Erlangen.

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Vorher bereits ein konsequenter Sportabzeichensammler

Doch Gerhard Müller ist kein „Ich-habe-vorher-nie-Sport-gemacht-Fall“, dem der Triathlon in der Krise zu einem bewegten Leben verholfen hätte. Ganz im Gegenteil. Als er zum Triathleten wird, ist Gerhard Müller bereits seit Jahren erfolgreicher Handball- und Fußballtorwart, schneller Marathonläufer (Bestzeit: 2:44:46 Stunden) und konsequenter Sportabzeichensammler – acht Disziplinen in zwei Stunden, ununterbrochen seit nun 40 Jahren. Ein Multisportler aus dem Bilderbuch, oder, wie er selbst sagt: „Bis auf Stabhochsprung kannst du mit mir alles machen.“

Und Müller macht. Aber nicht nur Sport. Als wir uns in Nürnberg am Hauptbahnhof treffen, gibt es erst mal eine schnelle Stadtführung per PKW. Nur das Wichtigste: ein bisschen Kirchen-, ein bisschen Lokal- und ein bisschen Wirtschaftsgeschichte. Ein kurzer Abriss über anstehende und kürzlich abgeschlossene Bauprojekte, eine Prise Brauchtumskunde und, weil es sich anbietet, noch das Wichtigste aus Politik und Geografie.

Das muss aber fürs erste reichen, denn schließlich warten in der Dorfmetzgerei in Möhrendorf noch die preisgekrönten Meerrettich-Bratwürste, ohne deren Verköstigung man das Frankenland auf keinen Fall verlassen darf. Doch als auch das erledigt ist, können wir endlich abtauchen: in Gerhard Müllers Keller und in seine komplett dokumentierte Sportgeschichte.

Beweisaufnahme: Jeder Triathlon, den Gerhard Müller gemacht, ist dokumentiert – mit Ergebnisliste und Urkunde.

Wenn jemand ein privates Archiv hat, heißt es oft, dieser Jemand würde „alles“ aufheben. Doch wahrscheinlich gibt es in Triathlon-Deutschland niemanden, bei dem „alles“ zutreffender wäre als bei Gerhard Müller. Neben prall gefüllten Ordnern über seine Handball- und Fußballkarrieren gibt es für jeden absolvierten Triathlon einen Hängeordner, in dem die entsprechende Ergebnisliste sowie seine Finisher-Urkunde abgelegt sind. Mal nur zwei Blätter, mal Dutzende. Je nach Teilnahmen. Doch kein Rennen aus dem Hängeschrank hat mehr Striche auf dem Reiter an der Mappe als der ­Schliersee-Alpen-Triathlon. 31 Mal ist Gerhard Müller hier ohne Unterbrechung an den Start gegangen – und er hat die Absicht, dies auch weiterhin zu tun. Doch wer denkt, man hätte es hier mit schierer Sammelwut zu tun, irrt gewaltig. Gerhard Müller hat Dinge einfach gern klar geordnet. Und es ist ihm wichtig, sportlichen Erfolg auch beweisen zu können. Einfach mal Zahlen raushauen, die nicht durch Dokumente zu belegen sind? Für den ehemaligen Banker undenkbar. Und so wird sogar über den Bowlingabend mit den Kumpels Buch geführt und seine Triathlon-Finisher-Shirts belegen, sauber gefaltet und nach Jahren geordnet, eine komplette Schrankwand in seinem Trainingskeller.

Textiles Archiv: Die Finisher-Shirts von 400 Triathlons füllen in Gerhard Müllers Keller eine Schrankwand.

Dort verbringt Gerhard Müller eine Menge Zeit. Sport ist für den Franken niemals Qual, sondern ausschließlich Lebensqualität. „Es nützt ja nichts, wenn du im Alter noch Kreuzworträtsel machen kannst, aber es nicht zum Kiosk schaffst, um sie zu holen“, erklärt der 73-Jährige seine Motivation, in ­Bewegung zu bleiben. Er achtet auf seine Ernährung, ist stolz darauf, dass er noch in seinen Konfirmationsanzug passt, und immer neugierig, was die moderne Welt zu bieten hat.

Motivation durch Anmeldung

Was den Sport angeht, auf jeden Fall wieder eine zweistellige Zahl an Wettkämpfen. „Im März bin ich immer schon für zehn bis zwölf Rennen angemeldet“, erzählt der Vielstarter. Meist ist er auf der Kurzdistanz unterwegs, dazu eine Mittel- oder Langdistanz pro Jahr und im Oktober noch ein Marathon zum Abschluss. Davon könne er 35 sofort beweisen, für die restlichen 20 müsse er recherchieren. Über seine Triathlons hat er hingegen jederzeit den vollen Überblick, und seine 29. Saison soll eine besondere werden. Denn 2016 ist, wie alle fünf Jahre, Langdistanzjahr. Beim Ironman Frankfurt gilt es, eine neue Altersklasse in Angriff zu nehmen. Dafür arbeitet er hart. Die Trikotkante an den trainierten Ober­armen zeugt von den drei Wochen in der Toskana, wo er gerade sein alljährliches Trainingslager durchgezogen hat. Seitdem folgt er einem Plan, der ihn zwölf bis 15 Stunden pro Woche beschäftigt. „Das brauche ich zur Orientierung und um in Hinblick auf meine Ziele konsequent zu bleiben“, sagt Gerhard Müller.

Unterm Dach: Die Pokalsammlung auf dem Dachboden abzustauben ist in Müllers Fall eine abendfüllende Aufgabe.

Als größtes Ziel gibt er aus, lange und gesund Sport machen zu können. Darum geht es ihm. Ergebnisse seien ihm nicht so wichtig. Hauptsache machen. Doch wer so lange dabei ist wie Gerhard Müller, kommt natürlich um Podiumsplätze nicht herum. Bei Deutschen und bei Bayerischen Meisterschaften – allein und in der Mannschaft. Von den Aufstiegen und Rekorden im Mannschaftssport ganz zu schweigen. Gerade prüft der Deutsche Handballbund, ob es jemanden gibt, der mehr Spiele absolviert hat als die 1.550, die Gerhard Müller bislang nachweisen kann.

Dass im Sport keine Geschenke verteilt werden, weiß Gerhard Müller nur zu gut. „In der M65 gab es einige richtig schnelle Leute“, erzählt er. Und während die meisten von ihnen Mitstreiter sind, kann man deutlich raushören, dass er auch Gegner hat. Wenn etwas nicht so läuft, wie er sich die Sache vorstellt, etwa in Vereinen und Verbänden, in denen er ehrenamtliche Tätigkeiten zuhauf verrichtet, verabschiedet er sich. Wenn es sein muss, dann auch von jetzt auf gleich, aber niemals, ohne vorher seine Meinung gesagt zu haben. „Es gibt Menschen, die mit dieser Ehrlichkeit nicht umgehen können“, stellt Gerhard Müller nüchtern fest, „aber das ist dann eben so.“

Fakt ist: Ein Diplomat wird aus Gerhard Müller in diesem Leben nicht mehr. Aber er kann durchaus damit umgehen, dass es auch andere Ansätze als den seinen gibt. Den seiner Frau Petra zum Beispiel. Als die beiden sich 1974 kennenlernen, tobt in Deutschland gerade das Discofieber. Doch Gerhard Müller ist immun. Für ihn zählt zu jener Zeit vor allem der Handball, und er hat einen ehrgeizigen Plan: Alle Länder Europas will er mit dem Motorrad besuchen, und wenn sie ihn wolle, dann müsse sie eben mit. Petra will, und gemeinsam machen Sie sich auf eine 200.000 Kilometer lange Reise in etlichen Etappen. Bis hinter allen 37 Ländern auf der Landkarte ein Haken ist.

„Es nützt ja nichts, wenn du im Alter noch Kreuzworträtsel machen kannst, aber es nicht zum Kiosk schaffst, um sie zu holen.“

Was das Thema Sport angeht, ist Petra der absolute Gegenentwurf zu ihrem Mann. Wenn Gerhard im Rennfieber ist, gibt Petra ab und an die Betreuerin. Doch am liebsten kümmert sie sich um Haus, Küche und Garten und lässt ihn einfach machen. Damit können beide gut leben, und es wäre auch vergebens, einen Gerhard Müller ausbremsen zu wollen. Nur wenn ihr Mann im Eifer des Gefechts vom Erzählen ins ­Dozieren abgleitet, geht sie mit einem „ach ­Gerhard“ wirkungsvoll dazwischen. Der weiß genau, dass seine Frau sich Sorgen um ihn macht, wenn mal wieder Langdistanzjahr ist. Doch deswegen von den gemachten Plänen abweichen? Keine Chance. Gerhard Müller will nach Frankfurt, und dann muss es auch sein. Wahrscheinlich wird er dann allein fahren und im Auto schlafen. Neben seiner neuen Triathlonmaschine, die Petra ihm zum Geburtstag geschenkt hat.

Auf der Rolle: Einen Großteil seiner Radeinheiten macht Gerhard Müller indoor.

Sein neues Rad soll ihm auf dem Weg zu seinem siebten Langdistanz-Finish zwar Flügel verleihen, doch bis nach Hawaii brauchen diese nicht zu tragen. Die Quali, lässt Gerhard Müller bestimmt wissen, sei ihm vollkommen egal, und hinfliegen würde er unter keinen Umständen. Denn der Mann, der nichts auslässt, ist noch nie geflogen und hat große Angst vor diesem Abenteuer. „Mein Leben ist mir viel zu wertvoll, als dass ich es in die Hände eines Menschen geben würde, der vielleicht große Probleme hat“, erklärt Gerhard Müller. Wenn überhaupt, dann frühestens in zehn Jahren. Angepeilt hat er zwar mindestens die 100, aber „wenn es mich dann trifft, ist das ja nicht mehr so dramatisch.“

Wichtig sei ihm aber, dass er vorher noch seinen 500. Triathlon machen könne, sagt Gerhard Müller. Eine schnelle Kopfrechnung ergibt, dass er dann wahrscheinlich 80 Jahre alt wäre. Eine neue ­Altersklasse würde auf ihn warten, und es wäre wieder Langdistanzjahr. Also runden Geburtstag feiern und dann doch noch nach Hawaii? Gerhard Müller gerät ins Grübeln: „Dann doch noch nach Hawaii …“, murmelt er vor sich hin. Und er klingt dabei wie einer, der ­gerade auf eine richtig gute Idee gekommen ist.

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Nils Flieshardt
Nils Flieshardt
Nils Flieshardt ist Chefredakteur der Zeitschrift triathlon und seit über 15 Jahren als Radexperte im Einsatz. Wenn er nicht am Rechner sitzt, findet man ihn meist hinter der Kamera auf irgendeiner Rennstrecke oder in Laufschuhen an der Elbe. Als Triathlet ist er mehr finish- als leistungsorientiert, aber dafür auf allen Distanzen zu Hause.

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