Sonntag, 6. Oktober 2024

Die Raelert-Reunion

Kurz vor 7 Uhr Mitte Juni in Papendorf, eine kleine Gemeinde eine knappe Viertelstunde Autofahrt südlich von der Rostocker Innenstadt. Andreas Raelert fährt im schwarzen VW-Bus vor und steigt mit einem breiten Lächeln aus. Für den 44-Jährigen könnte die erste Einheit des Tages sofort beginnen. Während eine Handvoll junger Athleten sich noch in die Neoprenanzüge zwängen muss, trägt er das passende Trainingsoutfit bereits auf der Haut. Müdigkeit am Morgen ist ebenfalls kein Hindernis. Für ihn, der ansonsten stets um sechs Uhr im Rostocker Neptunbad bereits die ersten Bahnen des Tages zieht, ist die vereinbarte Uhrzeit so etwas wie Ausschlafen. „Wer Gas geben will, kann das gern machen. Keine falsche Zurückhaltung“, verkündet Andreas Raelert in die Runde aus Bundesliga-Athleten, einem Agegroup-Hawaii-Starter und Freunden, die sich regelmäßig zu gemeinsamen Trainingseinheiten trifft. Ebenfalls wieder Teil der bunt gemischten Truppe ist sein Bruder Michael Raelert. Der kommt wenige Augenblicke später auf dem E-Mountainbike auf den Parkplatz gedonnert. „Komme ich zu spät?“, fragt er. „Nein, keinen Stress. Es geht erst in ein paar Minuten los“, entgegnet ihm sein älterer Bruder. Im Schlepptau hat Michael Raelert den Franzosen Baptiste Neveu, den er bei Brett Sutton kennengelernt hat und der einige Wochen bei ihm in Rostock verbringt und bei den Raelerts mittrainiert. Wenige Minuten später kann das Training mit dem Sprung in die Warnow beginnen.

Marvin Weber / spomedis Kurze Absprache bevor es losgeht: Mit einer kleinen Trainingsgruppe schwimmen Andreas und Michael Raelert regelmäßig.

In dem fast strömungslosen Flussabschnitt könnte man vom gewählten Startpunkt einmal bis in die Ostsee im Rostocker Stadtteil ­Warnemünde schwimmen. Dieses lang gehegte Projekt bleibt jedoch weiterhin auf der Bucket List der Brüder. Für diesen Morgen sollen knapp drei Kilometer reichen. Im Anschluss schlüpfen die Sportler aus dem Neo und springen erneut in den Fluss, um die Einheit mit kleineren Sprints in Badehose zu beenden. Jeder in der Gruppe darf einmal die Ansage machen, wie der nächste Sprint beginnt – ob mit Rollwende vorwärts, Rollwende rückwärts oder einem Blick in die entgegengesetzte Richtung. „Das Schwimmen mit den Jungs macht richtig Spaß“, sagt Andreas Raelert, der die Community in seiner Heimatstadt genießt. „Da hat sich wieder richtig was entwickelt“, fügt Bruder Michael hinzu. Ohne auch nur den Hauch von Starallüren wissen die beiden, die als Brüderpaar unzählige Weltmeisterschaftstitel, Olympiateilnahmen und Podiumsplatzierungen auf Hawaii auf dem Papier stehen haben, die Gesellschaft vor Ort zu schätzen und sind völlig selbstverständlich ein Teil einer Gruppe, die den Triathlon­sport liebt und sich dafür gegenseitig an die Grenzen bringt. 

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Marvin Weber / spomedis Optimale Bedingungen: Wenn es das Wetter zulässt, schwimmt die Truppe rund um die Raelert-Brüder in der nahezu strömungslosen Warnow.

Dass Andreas und Michael Raelert an einem Morgen wie diesem nun wieder regelmäßig Seite an Seite Trainingskilometer sammeln, hat unter anderem auch mit den Gegebenheiten rund um das Coronavirus zu tun. Als weltweit ein Land nach dem anderen seine Grenzen schloss und sich in den Lockdown begab, steckt Michael ­Raelert in Thailand mitten in der spezifischen Vorbereitung für den Ironman Südafrika. Mitte April nimmt der 39-Jährige einen der letzten und zugleich wohl auch teuersten Flüge seines Lebens zurück nach Deutschland. Anstatt nach Hamburg, wo er immer wieder für viele Jahre seinen Hauptwohnsitz hatte, zieht es ihn zurück in seine Geburtsstadt Rostock. Zurück zu den Wurzeln. Zurück zu seinem Bruder. „Man ist da zu Hause, wo man sich wohlfühlt. Hier ist Andi, der sich hier auch wohlfühlt“, sagt Michael Raelert. Die Entscheidung, die eigene Wohnung in Rostock wieder mit Leben zu füllen, hatte er bereits einige Monate zuvor getroffen. Durch die neue Situation rund um das Virus gab es die nötige Dringlichkeit, das Vorhaben auch in die Tat umzusetzen. Reisen und an vielen Orten auf dem Globus trainieren, will er weiterhin, sobald das wieder ohne große Restriktionen und gesundheitliches Risiko möglich ist.

Marvin Weber / spomedis Letzte Handgriffe vor der anschließenden Laufeinheit: Sven Raelert, der dritte der Raelert-Brüder, managt das Familienunternehmen.

Die neue alte Basis für die Reise ist jedoch nun wieder die Hansestadt an der Ostsee, die beide niemals mit größerem Gehabe als ihre Heimat bezeichnen würden, die jedoch aber vor allem für Andreas und auch für Michael Raelert immer wieder zentraler Lebensmittelpunkt ist. „Wir haben uns über viele Jahre eine Infrastruktur aufgebaut, die es uns ermöglicht, den Sport als Profi­athleten unter guten Bedingungen auszuüben“, sagt Michael Raelert. „Wir haben hier alle Möglichkeiten und ich muss mich bei niemandem rechtfertigen, wenn ich auf der Wettkampfbahn im Leichtathletikstadion oder im Schwimmbad meine Trainingseinheiten absolviere“, sagt er. Wenn man Sport auf höchstem Leistungsniveau betreibe, müsse das Drumherum, die Rahmenbedingungen, so einfach wie möglich sein. Das hatte ihm bereits Coach Brett Sutton mit an die Hand gegeben, zu dem er 2018 für einen Neustart gewechselt war. In der 1,8-Millionen-Einwohner-Stadt Hamburg, seinem zweiten Zuhause, sei „einfaches“ Training nicht immer möglich gewesen. Ob weite Wege zum Fitnessstudio oder mit dem Rad raus aus der Innenstadt oder der Gedanke im Hinterkopf, beim Radfahren am Deich mit unzähligen Gleichgesinnten auch noch gut aussehen zu müssen: Es gab immer wieder eine zusätzliche Hürde vor jeder Trainingseinheit. „Das war sehr aufwendig im Kopf“, sagt Michael Raelert. In Rostock hingegen könne er aufstehen und anschließend für die erste Trainingseinheit des Tages fast direkt in den Pool fallen. 

Marvin Weber / spomedis Gemeinsam in Rostock: Nach Michael Raelerts Rückkehr in die Geburtstadt der Brüder trainieren die beiden wieder öfter Seite an Seite.

Familienrat beschließt zweimal die Verlängerung

Mit dabei ist dann in nahezu allen Fällen auch Bruder Andreas, der gut ein Jahr nach der Tagung mit dem Familienrat nach dem dramatischen Aus beim Ironman ­Hamburg entschieden hatte, seine Karriere um ein weiteres Jahr verlängern zu wollen. Nachdem er bei der Langdistanz in der Hansestadt zwischenzeitlich auf Rang zwei vorgelaufen und das Hawaii-Ticket zumindest theoretisch greifbar war, musste der dreifache Ironman-Vizeweltmeister nach der Hälfte des Marathons das Rennen vorzeitig aufgrund von Gleichgewichtsproblemen beenden und wurde anschließend ins Krankenhaus eingeliefert. Erneut war der Traum von einem letzten Start auf Hawaii geplatzt. Doch kurz danach folgt der Beschluss, dass die Karriere des heute 44-Jährigen zu diesem Zeitpunkt noch nicht beendet sein soll. Analysen und Trainingseinheiten ­e­inige Wochen später bestärken Andreas Raelert in dieser Entscheidung. Mit dem Ironman Cozumel in ­Mexiko ist kurz darauf auch schnell ein neues Wettkampfziel ins Auge gefasst. Zusammen mit seinem Bruder absolviert er ein Trainingslager in Clearmont (Florida), bei dem nicht nur die Motivation, sondern auch die Daten stimmen. „Die Werte, die ich dort zusammen mit Micha abrufen konnte, waren in der Nähe meines Bestniveaus. Deshalb weiß ich, dass eine Hawaii-Quali durchaus ein realistisches Ziel ist, wenn ich wieder in diesen Bereich komme“, sagt Andreas ­Raelert. Doch im Vorfeld des Rennens macht sich die Achillessehne erneut bemerkbar, die dann auch Plan C für das Jahr 2019 nach den Starts auf Lanzarote und in Hamburg zunichtemacht. Rund um die Weihnachtszeit unterzieht sich Andreas Raelert einer Operation an der Achillessehne, um in 2020, das planmäßig letzte Jahr seiner Profikarriere, noch einmal angreifen zu können. 

Ich werde älter und muss mich mit den Besten messen können, um mich für Hawaii zu qualifizieren.

Andreas Raelert

Wenige Wochen nach dem Jahreswechsel wird dann schnell klar, dass das Kalenderjahr 2020 kein normales sein wird und dass Ironman-Wettkämpfe wenn überhaupt nur unter strikten Einschränkungen sowie Hygiene- und Sicherheitsbestimmungen ausgetragen werden können. Sollte so also die Karriere, das letzte Jahr als Triathlonprofi, zu Ende gehen? „Das war zu dieser Zeit eine äußerst schwierige Entscheidung“, sagt Andreas Raelert. Für ihn und seine Familie stellt sich erneut die Frage: Ist es dieser enorme Aufwand, der jedes Jahr ein wenig größer wird, noch wert? Zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern sowie seinen Brüdern ­Michael und Sven, der für das Management der ­„Raelert-Brothers“ zuständig ist, kristallisiert sich erneut ein Ja heraus. Gegen das Karriereende spricht vor allem der schon länger gehegte Traum von einem versöhnlichen Abschluss auf der Triathleten-Traum­insel Big Island. Ein letztes Mal Hawaii. Die Insel, auf der er nach drei zweiten und zwei dritten Plätzen bei der Weltmeisterschaft eigentlich niemandem mehr etwas beweisen müsste. Auch wenn zum vollkommenen Glück vielleicht noch der Platz ganz oben auf dem Podium in Kailua-Kona gefehlt hätte. Doch mit diesem Gedanken hat Andreas Raelert mittlerweile wohl abgeschlossen. Der Traum von einem letzten für ihn perfekten Rennen auf Hawaii geistert ihm dennoch weiterhin im Kopf herum und lässt ihn nicht zur Ruhe kommen. Ein rastloser Pilger, der ein letztes Mal nach ­Mekka möchte. Auf dem Weg dorthin gilt für ihn jedoch, erst einmal ­einen Schritt nach dem anderen zu machen und nach der OP und einer Lungenentzündung im Frühjahr eine gewisse Kontinuität im Training zu erlangen. „Es ist immer schwer zu sagen, ob man nach einer Verletzung auch wieder dahin kommt, wo man vorher war. Ich gebe mich da auch keiner Illusion hin. Ich werde älter und muss mich mit den Besten messen können und konkurrenzfähig sein, um mich für Hawaii zu qualifizieren“, sagt Andreas Raelert. 

Die Resultate auf dem Papier fehlen

Mit einem nüchternen und rationalen Blick auf die nackten Zahlen und Resultate könnte der Traum vom letzten ­Hawaii-Start schnell wie eine Seifenblase zerplatzen. Nach seinem zweiten Platz bei der Weltmeisterschaft in Kailua-Kona im Jahr 2015 gibt es für ihn nicht mal eine Handvoll zählbarer Resultate, wie er sich auch selbst eingesteht. „Von außen betrachtet könnte man sich durchaus fragen, woran ich es festmache, dass 2021 alles anders werden soll“, sagt er. „Wenn man jedoch hinter die Kulissen blickt und sich die Details anschaut, dann spielen die Resultate der vergangenen Jahre nicht mehr wirklich eine große Rolle.“ Und der Blick hinter die Kulissen offenbart einige Rückschläge: Oberschenkelhalsbruch nach einem Unfall im Training, Ermüdungsbruch und eine Achillessehnenverletzung. Drei gewichtige Gründe, von denen auch nur einer eine komplette Saison von jetzt auf gleich zunichtemachen kann. „Es sind die typischen Höhen und Tiefen, an denen wir auch ein Stück weit gemessen werden“, sagt der zweifache Olympiateilnehmer. Und auch wenn das Barometer, gemessen an den Resultaten, in den vergangenen Jahren häufig eher auf Tief stand, bleibt das Familienunternehmen ­Raelert-Brothers zuversichtlich: „Die Jungs nehmen eine schlechte Saison ganz anders wahr als die Öffentlichkeit. Bei einem DNF waren vielleicht schon 90 Prozent da und es hat nur ein kleines Stück zum Ziel oder Erfolg gefehlt“, sagt Sven Raelert. 

Marvin Weber / spomedis Die beiden Brüder mit teils sehr unterschiedlichen Charakteren vereint die gemeinsame Leidenschaft für den Triathlon.

Auf dem Weg zum großen Ziel hat sich der Alltag von Andreas Raelert, mittlerweile zweifacher Familienvater, deutlich verändert. Gegen 5 Uhr morgens klingelt meist der Wecker, damit Raelert 60 ­Minuten ­später bereit für die erste Einheit im Wasser ist. Das Leben mit der Familie ist im Alltag des Triathlonprofis mindestens genauso viel wert wie zufriedenstellende Ergebnisse aus Trainingseinheiten. „Ich versuche mein Training so anzupassen, dass die Kinder ­einen regelmäßigen und stabilen Tagesablauf haben. Das bin ich ihnen schuldig“, sagt er. Als Ausrede für eine ausgefallene Einheit und einen Knick in der Leistungskurve lässt er den Drahtseilakt zwischen Familienleben und Profikarriere jedoch nicht gelten. „Das ist beides miteinander vereinbar“, sagt Andreas Raelert. Und wenn er dafür nach einem gemeinsamen Abendessen noch einmal in seine private Pain Cave am Olympiastützpunkt in Rostock zurück muss, um dort noch Kilometer auf der Rolle abzuspulen. Das „eigentlich ungeliebte“ Indoortraining ist für ihn dabei mittlerweile ein wichtiger Grundstein im Alltag, um effizient und zeitsparend die anvisierten Fortschritte zu machen. Bis zu 70 Prozent der Radeinheiten absolviert der Sechste der Olympischen Spiele aus dem Jahr 2004 auf der Rolle. Knapp zwei Jahrzehnte nach seiner Olympia-Premiere in Athen gehört es ebenfalls zum Trainingsalltag von Andreas Raelert, sich einzugestehen, dass man nicht mehr mit den „jungen Wilden“ mehrere Tage hintereinander Vollgas geben kann. „Mir gelingt es nicht mehr, die gleichen Reize wie früher zu setzen. Aus den zwei harten Einheiten pro Woche ist eher eine geworden und von der muss ich mich auch deutlich länger regenerieren“, sagt er. Doch von dieser Tatsache lässt man sich im Hause Raelert nicht unterkriegen und sieht das Alter durchaus auch als ­Chance: „Wir haben jahrzehntelang Guthaben angespart“, sagt Sven Raelert. Oder wie es Andreas Raelert ausdrückt: „Wenn am Tag X alles stimmt, glaube ich, dass ich dem Niveau der vergangenen Jahre schon sehr nahe komme.“ Ob am besagten Tag X auch wieder eine Platzierung auf Hawaii innerhalb der Top 10 oder unter den ­besten fünf herausspringen kann? Zu dieser Frage gönnt sich Andreas Raelert lange Bedenkzeit: „Vielleicht muss ich mir auch im nächsten Jahr eingestehen, dass ich von der Leistungsfähigkeit ­eigentlich da bin, wo ich sein wollte, aber die Weltspitze einfach so weit weg ist, dass es unrealistisch ist, auch nur einen Gedanken an eine Platzierung in diesen Regionen zu verschwenden“, sagt er. Einem möglichen Qualifikationswettkampf im Herbst stehe von körperlicher Seite erst einmal nichts im Wege. Dennoch wolle er die Entwicklung rund um das Coronavirus zunächst abwarten und dabei kein Risiko eingehen. Für sich, seine Familie als auch für die Menschen in der Region, für die er als Starter ebenfalls eine gewisse Gefahr darstelle. 

Mit neuem Trainer zur alten Leidenschaft

Für den drei Jahre jüngeren Bruder bringt das Jahr 2020 nicht nur durch die Rückkehr zu seinen Wurzeln nach Rostock ­einige Veränderungen mit sich. Mit neuen Impulsen, Gedanken und einem neuen Team geht es für ihn aufwärts: „Ich spüre ein Feuer, das ich lang nicht mehr gespürt habe. Das ist jetzt wieder da“, sagt Michael Raelert. „Das merkt man doch auch morgens beim Schwimmen, oder Andreas?“, holt er sich die Bestätigung. Bereits das breite Grinsen in Michael Raelerts Gesicht verrät, dass dies nicht bloß leere Phrasen sind, sondern dass er die Leidenschaft für den Triathlon wirklich noch einmal neu entdeckt hat. Eine Jugendliebe, die ihren zweiten ­Frühling erlebt. Ein wichtiger Faktor für das neu entfachte Feuer ist sicherlich die Entscheidung, nun Sebastian Zeller als Trainer an seiner Seite zu haben. Die Zusammenarbeit mit Brett Sutton endete für ihn deutlich früher als geplant. „Entweder passt man in sein System oder ist eben nicht gut genug“, so die ziemlich ernüchternd wirkende Analyse von Michael ­Raelert. Dennoch: „Das Jahr bei ihm war super interessant, aber das Training hat nicht angeschlagen.“ Sein Körper habe die extremen Umfänge Suttons, für die er in Triathlonkreisen berüchtigt ist, einfach nicht adaptieren können.

Ironman kann ich definitiv noch nicht.

Michael Raelert

Für seinen Bruder sei das System eher geeignet, ist sich Michael ­Raelert sicher: „Andreas ist ein Gaul, den man bei Wind und Wetter schinden kann. Mich muss man auch manchmal auf die Koppel schicken, streicheln und mich entspannen lassen, ehe es am nächsten Tag wieder mit Vollgas weitergeht.“ Ein planbarer Alltag abseits des Trainings sei unter Sutton selten möglich gewesen. Statt der zuvor angedeuteten Schwimmeinheit wartet dann am nächsten Morgen auch schon einmal ein Marathon auf der Bahn bei strömendem Regen und Wind. Doch zumindest in der Anfangsphase, als sich Michael Raelert voll und ganz diesem System und vor allem seinem Trainer unterordnet, stellen sich schnell Erfolge ein und der eigentliche Plan, in den ersten zwei Jahren erst einmal keine Langdistanz zu machen, wird schnell über Bord geworfen. „Sutton hat mich gestochen scharf analysiert und mir aufgezeigt, dass ich die letzten Jahre das Wesentliche aus den Augen verloren und dadurch die falsche Motivation hatte“, sagt der zweifache Ironman-70.3-Weltmeister. Kurz danach war klar: keine Frauengeschichten, keine schnellen Autos, kein Statusgehabe mehr. Was zählt, ist die volle Konzentration auf den Sport. „Er sagte mir, dass ich meinen Zenit auf jeden Fall noch nicht überschritten hätte.“

Marvin Weber / spomedis Für einige Wochen zu Beginn des Jahres ist auch der Franzose Baptiste Neveu in Rostock mit von der Partie.

Nach ersten erfolgreichen Trainingsmonaten steht dann schnell auch eine Podiumsplatzierung auf ­Hawaii als Zielvorgabe im Raum. Nach dem kurzzeitigen Aufschwung und der Euphoriephase folgt jedoch relativ schnell wieder eine Talfahrt. Gegen seinen eigenen Willen soll er beim Ironman Hamburg im vergangenen Jahr an den Start gehen. „Ich wollte dort nicht antreten, weil ich noch viel zu müde war.“ Nur wenige Tage vor dem Wettkampf hatte unter anderem noch ein 30-Kilometer-Lauf angestanden. Wohl auch einer der Gründe für den Einbruch auf dem Rad im letzten Drittel der 180 Kilometer und das kurz darauf folgende DNF. Und auch im Training fehlen danach die Erfolgserlebnisse: „Von Bahn eins bin ich schnell wieder zu den Altersklassen-Athleten auf die Bahn, die mich dann aber auch überholt haben“, sagt Michael Raelert. Nur vier Tage nach seinem DNF in Hamburg wird er von einem Auto angefahren und bricht sich das Schlüsselbein. Die Saison ist gelaufen und Michael Raelert beschließt gegen Ende 2019, dass er sich doch noch einmal einen neuen Trainer suchen will. Mit dem Kölner Sportwissenschaftler Sebastian Zeller hat er nun einen Trainer an seiner Seite, mit dem er schon länger geliebäugelt habe. Nun also eine Trainer-Athleten-Beziehung auf Augenhöhe mit dem 35-jährigen Coach anstatt „diktatorischer Verhältnisse“. Während unter Sutton Daten ein absolutes Tabuthema waren, sind sie nun wieder Grundstein für die alltägliche Zusammenarbeit und das Training. „Daten sind ehrlich, die lügen nicht. Schwarz oder weiß“, sagt Michael Raelert. Vor allem beim Thema Geschwindigkeit habe er in den vergangenen Jahren viel eingebüßt. Umso mehr freue er sich nun auch wieder über die harten und intensiven Einheiten, bei „denen das kleine Kolibriherz wieder über 190 Schläge pro Minute“ erreiche. Ein weiterer Moment, in dem Michael Raelert die neu entfachte Liebe nicht nur am breiten Grinsen anzusehen ist, sondern auch am Strahlen in den Augen. Zusammen mit dem neuen Trainer will er die bisher „unerfüllte Liebe“ zur Langdistanz angehen. „70.3-Rennen machen mir nach wie vor Spaß und ich glaube, dass ich wieder auf ein Niveau kommen würde, mit dem ich auf der Distanz wieder konkurrenzfähig bin. Aber das reizt mich nicht. Ironman hingegen kann ich definitiv noch nicht. Da ist der Reiz deutlich größer, etwas zu trainieren, was ich nicht kann“, sagt er.

Ähnlich wie sein Bruder Andreas schielt auch Michael Raelert beim Thema Langdistanz auf die mystische Inselgruppe am anderen Ende der Welt. Zwei Rostocker auf Hawaii – der Titel der NDR-Reportage aus dem Jahr 2011. Ein Jahrzehnt später im Jahr 2021 dann vielleicht auch mit einem kitschigen Happy End für beide Brüder.

Das Porträt über die Raelert-Brüder erschien in der triathlon 182 im August 2020.

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Marvin Weber
Marvin Weberhttp://marvinweber.com/
Marvin Weber ist Multimedia-Redakteur bei triathlon: Neben Artikeln fürs Magazin und die Homepage ist der gebürtige Siegerländer auch immer auf der Suche nach den besten Motiven für die Foto- und Videokamera. Nach dem Umzug in die neue geliebte Wahlheimat Hamburg genießt er im Training vor allem die ausführlichen Ausfahrten am Deich.

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