Es ist wie der allseits bekannte Sprung ins kalte Wasser. Wenn am kommenden Mittwoch in Kienbaum um die letzten beiden deutschen Olympia-Startplätze gekämpft wird, ist jede Sekunde entscheidend. Bei nur rund 20 Minuten Renndauer (300 m Schwimmen, 6,8 km Radfahren, 1,9 km Laufen im Time-Trial-Format) muss jeder Handgriff sitzen, der kleinste Fehler wird bestraft – und hat in diesem Fall weitreichende Folgen, denn nur die Sieger des Frauen- und Männerrennens qualifizieren sich für die Olympischen Spiele in Tokio Ende Juli. Besonders prekär wird dieser Umstand dadurch, dass ein Großteil der Athleten aufgrund der aktuell herrschenden Situation vorher keine oder kaum „echte“ Rennpraxis sammeln konnte. Für manche ist der Wettkampf um den Olympia-Startplatz das erste Rennen seit vielen Monaten. Auch Justus Nieschlag blieb in der unmittelbaren Wettkampfvorbereitung für Kienbaum „nur“ ein Start beim Super-League-Rennen in London Ende März.
„Zum Glück hatte ich überhaupt die Gelegenheit, in London zu starten. Es war zwar nicht die klassische Triathlonreihenfolge, aber das Format ist auch sehr intensiv und um die Handgriffe mal wieder unter Wettkampfbedingungen umzusetzen, war das auf jeden Fall hilfreich. Sicherlich nicht optimal, aber definitiv besser als nichts“, sagt Nieschlag zur mangelnden Rennpraxis vor dem alles entscheidenden Wettkampf. Er habe sich ganz bewusst gegen einen Start beim WTCS-Rennen in Yokohama am vergangenen Wochenende entschieden, um dem enormen Reisestress, der Zeitverschiebung und der Erholungszeit nach einer olympischen Distanz so kurz vor dem Rennen um die Olympia-Quali zu entgehen. „Es fühlt sich schon ein bisschen so an wie der erste Wettkampf der Saison, bei dem man noch nicht so genau weiß, was man erwarten kann. Insbesondere, weil das Format so speziell ist. Vor zwei Jahren haben wir in Kienbaum einen Testwettkampf auf der Rennstrecke gemacht und am Ende lag nicht einmal eine Sekunde zwischen Platz eins und zwei. Da muss wirklich alles passen.“
Saisonvorbereitung auf Fuerteventura und im Höhentrainingslager
Ein kleiner Zeitsprung zurück: Vor dem Start in die Saisonvorbereitung 2021 musste Nieschlag gegen Ende 2020 zunächst eine Laufverletzung auskurieren, weshalb das Training fürs neue Jahr mit einer Laufpause und kurzen Reha startete. Im Anschluss ging es bereits im Januar für mehrere Wochen nach Fuerteventura ins Las Playitas: „Insbesondere beim Laufen war es nach der Verletzung eine Gratwanderung. Wir wussten, dass ich durch die Pause viel verloren habe und daher enorm investieren muss, um wieder auf das entsprechende Niveau zu kommen. Gleichzeitig mussten wir vorsichtig sein, damit ich währenddessen auch gesund bleibe und die entsprechenden Umfänge und Intensitäten ohne Probleme vertrage. Das hat aber alles funktioniert und ich bin gesundheitlich gut durch die vergangenen Monate gekommen“, so der 29-Jährige. Nach dem Super-League-Rennen in London ging es für Nieschlag im April drei Wochen lang ins Höhentrainingslager in die spanische Sierra Nevada. Das Trainingscenter auf 2.320 Metern Höhe ist dem Junioren-Europameister aus 2011 von vorherigen Camps bestens bekannt.
Zwar hielt der Trainingsalltag im „High Performance Center C.A.R.“ coronabedingt einige Änderungen im Vergleich zu den sonstigen Aufenthalten parat, großartig gestört hat die Situation allerdings nicht: „Es war ein super Trainingslager, die Bedingungen waren hervorragend und auch das Wetter hat mitgespielt. Zusammen mit Joao Silva und Frederic Funk, die auch unter Dan Lorang trainieren, hatte ich eine richtig gute Trainingsgruppe und es hat sehr viel Spaß gemacht. Ich denke, dass mir das noch einmal einen ordentlichen Schub gegeben hat“, sagt Nieschlag.
„Der Druck ist groß, weil es nur diese eine Chance gibt“
Spezifisch für das kurze Supersprint-Format in Kienbaum hat sich Justus Nieschlag erst nach dem Trainingslager in der Sierra Nevada vorbereitet. Bis zu diesem Zeitpunkt vor wenigen Wochen sei das Training zunächst auf eine normale Triathlonsaison ausgerichtet gewesen. Nieschlag ist zwar zufrieden mit seiner aktuellen Form und der gesamten Vorbereitung, könne aufgrund des ungewöhnlichen Formats und der extrem kurzen Distanz allerdings nur schwer einschätzen, wie viel das im direkten Vergleich letztendlich wert ist. Auch wenn Nieschlag bei den Männern auf dem Papier durch seine starken Leistungen in den vergangenen Jahren bei verschiedenen Distanzen und Formaten für viele als Favorit gelten dürfte, will er diese Rolle nur ungern annehmen: „Dadurch, dass die anderen auch in Saarbrücken trainieren, sehe ich, was sie drauf haben. Bei dem Format kann sehr viel passieren, außerdem wird der Ablauf insgesamt für uns alle ziemlich ungewöhnlich. Jeder absolviert den Kurs für sich, alle zwei Minuten geht ein Athlet auf die Strecke und wir sind ganz auf uns alleine gestellt. Es gibt keine direkten Konkurrenten, keine Endsprints und kein Windschatten oder Taktieren auf dem Rad. Der Druck ist schon groß, weil es nur diese eine Chance gibt. Wenn man den Wechsel verhaut oder nur einen kleinen Fehler macht, kann es das schon gewesen sein.“
Radfahren und Laufen als rennentscheidende Kombination
Den Schlüssel zum Sieg sieht Nieschlag am nächsten Mittwoch vor allem in der Rad-Lauf-Kombination. Auf den 300 Metern beim Schwimmen würde vermutlich nichts Entscheidendes passieren. Da das Radfahren aber ohne Windschatten ausgetragen wird und der Kurs durch einige Wenden und Kurven ganz bewusst an die Gegebenheit in Tokio angepasst wurde, schlummere hier womöglich das größte Potenzial, um den Unterschied zu machen.
Außerdem komme es darauf an, wer nach dem anspruchsvollen und eventuell auch risikoreichen Radfahren noch die knapp zwei Kilometer am schnellsten läuft: „Der Radkurs ist zwar schnell, fordert durch die gezielt eingebauten technischen Elemente allerdings auch Fähigkeiten wie Abbremsen, Kurven fahren und Antreten. Da kann man auch so einige Sekunden verlieren oder herausholen. Wir verbringen zwar die meiste Zeit des Wettkampfs auf dem Rad, aber am Ende muss man das Rennen selbst bei günstiger Ausgangslage beim Laufen gewinnen. Insgesamt spielen viele Faktoren eine Rolle. Jetzt, in der letzten Phase, fängt das Kribbeln auch schon richtig an, aber ich freue mich drauf, dass es endlich losgeht. Nächste Woche werde ich sehen, wofür es reicht, und dann wissen wir auch endlich alle, wie wir unser Jahr planen können.“