
Ostern steht vor der Tür, die Temperaturen klettern nach oben – und Triathleten aus dem Keller, um das Rad nach Monaten des Indoortrainings in seinem eigentlichen Lebensraum zu bewegen. Die Radsaison beginnt. Zurück zur Natur. Dieser Leitspruch gilt seit jeher auch im Straßenverkehr. Was allerdings weniger auf ausgedehnten Grünstreifen und geringen Emissionswerten beruht, sondern vielmehr auf dem auf den Straßen oftmals ausgelebten „Recht des Stärkeren“ – und damit einem Missverständnis unterliegt. Schon der britische Naturforscher Charles Darwin wurde durch sein Werk in der Evolutionsbiologie mit dem Ausdruck „Survival of the fittest“ vielfach missverstanden. Nicht den Stärkeren hat er gemeint, sondern den am besten Angepassten.
Stärkung des Radverkehrs seit April 2020
Genau der hat auch im Dickicht Straßenverkehr die besten Karten. Das gilt im Zusammenleben von Kraft- und Radfahrern für beide Seiten gleichermaßen – und damit auch für Triathleten. Manchmal gibt eben der Klügere nach. Doch welche Regeln gelten und wie verhaltet ihr euch richtig? Wir klären euch darüber auf, was in der jüngsten Novelle der deutschen Straßenverkehrsordnung (StVO) festgelegt und für euch als Radfahrer und Triathleten relevant ist. Eine erste Version der Novelle war am 28. April 2020 vorgestellt, aufgrund eines Formfehlers aber kassiert worden. Die 54. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften zur Stärkung des Radverkehrs war davon jedoch nicht betroffen und gilt seither. Am 9. November 2021 trat schließlich die gesamte angepasste Novelle der StVO inklusive aktualisiertem Bußgeldkatalog in Kraft.
Goldene Regel nicht nur in der Radsaison: Rücksicht nehmen
Der Winterschlaf der Zweiräder ist also vorbei. Damit steigt in der Radsaison zugleich die Zahl der Konfrontationen, die sich im Straßenverkehr zwischen Rad- und Kraftfahrern ergeben. Sei es aus Missverständnissen, Unwissenheit oder auch unvereinbaren Eigeninteressen – niemand kann für sich in Anspruch nehmen, fehlerfrei zu sein. Und viele kennen die andere Seite. Die goldene Regel abseits von Paragrafen und Artikeln lautet daher: Rücksicht nehmen aufeinander, Verständnis haben füreinander, aufmerksam sein und auf sich aufmerksam machen.
Fahrrad für 55 Prozent der Deutschen ein unverzichtbares Verkehrsmittel
Mit knapp 200 Jahren ist das Fahrrad rund 50 Jahre älter als Darwins Theorie. Wie gefährdet die Spezies (Renn-)Radfahrer auf den Straßen aber ist, impliziert die bereits angesprochene Novelle der StVO. Ziel ist es, Autofahrer zu mehr Rücksicht auf Fahrradfahrer und Fußgänger zu bewegen und deren Leben auf den Straßen sicherer zu machen. Nicht zuletzt durch die Coronapandemie hat das Radverkehrsaufkommen weiter zugenommen. Laut Bundesministerium für Digitales und Verkehr nutzen mehr als 80 Prozent der Deutschen das Fahrrad, 55 Prozent halten es für ein unverzichtbares Verkehrsmittel. Damit sei Deutschland eine der führenden Fahrradnationen. Immer mehr Menschen verzichteten vor allem bei Distanzen von bis zu 15 Kilometern auf ihr Auto. Stattdessen käme das Fahrrad zum Einsatz.
Innerhalb Europas gelten unterschiedliche Gesetze für Fahrradfahrer
Bis zu einem echten Fahrradland ist es in Deutschland aber noch ein weiter Weg. Da sind andere Länder wie die Niederlande oder Dänemark schon weiter. Überhaupt: Innerhalb Europas gelten unterschiedliche Gesetze und Regeln auch für Fahrradfahrer. Wer verreist, sollte sich immer vor Ort über die Bedingungen informieren.
Nebeneinander fahren ist erlaubt
Immerhin: In Deutschland sind durch die Novelle rechtlich einige vage Bestimmungen zumindest konkretisiert worden. Häufiger Zankapfel war (und ist) unter anderem die Frage, ob Radfahrer auf der Straße nebeneinander fahren dürfen. Seit April 2020 ist (un-)klar geregelt, dass das Nebeneinander fahren erlaubt ist – wenn dadurch niemand behindert wird. Wann sich jemand allerdings behindert fühlt, ist eine rein subjektive Wahrnehmung. Für manch einen Autofahrer dürfte das Gefühl bereits bestehen, wenn der Gasfuß kurzzeitig gelupft werden und er in reduziertem Tempo hinter den Radfahrern herfahren muss, weil der Gegenverkehr kein Überholen zulässt.
Abstandsregel kommt einem Überholverbot gleich
Damit einher geht in der Novelle zugleich eine Konkretisierung der Abstandsregel beim Überholen von Fahrrädern. Nicht selten blieben bisher gerade so viele Zentimeter wie nötig zwischen Lenker und Außenspiegel, um noch schnell am vermeintlichen Hindernis vorbeizufahren. Die alte Rechtslage, in der ein „ausreichender“ Abstand vorgeschrieben war, ließ Raum für Interpretationen. Seit dem 28. April 2020 gilt beim Überholen innerorts ein Mindestabstand von eineinhalb Metern, außerorts sind es zwei Meter. Das bedeutet nichts anderes als ein faktisches Überholverbot auf allen Straßen, die nicht die nötige Breite haben. Aber wer fährt schon mit einem ausgeklappten Zollstock durch die Gegend?
Langsamere Verkehrsteilnehmer müssen gestauten Verkehr vorbeiziehen lassen
Ganz nebenbei unterstützt die Abstandsregel also den Passus, dass Nebeneinander fahren erlaubt ist. Zumindest bis zu einem gewissen Grad. Denn langsamere Verkehrsteilnehmer sind – allein oder zu zweit unterwegs – dazu verpflichtet, den gestauten Verkehr passieren zu lassen, wenn mehr als zwei Fahrzeuge warten müssen. Reiht sich eine Fahrzeugschlange hinter einem auf, muss man anhalten und die Wartenden vorbeiziehen lassen.
Fahrräder dürfen die Fahrbahn benutzen – aber es gibt Ausnahmen
Dass (Renn-)Radfahrer ohnehin auf der Straße fahren dürfen, ergibt sich aus Paragraf 2 der StVO. Der besagt, dass Fahrräder zur Gattung der „Fahrzeuge“ gehören und die Fahrbahn benutzen müssen. Diese Regel ist von der Novelle ebenso unberührt geblieben wie auch die Ausnahme dieser rechtlichen Vorgabe, die im Alltag derweil eher die Regel ist: Radwege. Für nicht wenige stellen sie den natürlichen Lebensraum der Radfahrer dar – und doch sind nicht alle Radwege benutzungspflichtig, sodass auf die Straße ausgewichen werden darf. Das führt mitunter zu Missverständnissen.
Benutzungspflichtige Radwege sind klar ausgewiesen
Benutzungspflichtige Radwege sind klar ausgewiesen. Nahezu jeder kennt das runde blaue Schild mit weißem stilisiertem Fahrrad, das dort entweder allein prangt oder sich die Fläche waage- beziehungsweise senkrecht mit Mutter und Kind als Symbolfigur für Fußgänger teilt. Wenn ein Weg mit diesen Zeichen (237, 240, 241) versehen ist, muss er entsprechend benutzt werden, auch wenn Rennradfahrer auf der Straße schneller wären – selbst die StVO-Novelle hat ihnen kein Recht auf Geschwindigkeit zugesprochen. Es gibt allerdings eine Ausnahme hinsichtlich der Benutzungspflicht von Radwegen: wenn Hindernisse wie Eis, Schnee, Wurzeln, Schlaglöcher oder parkende Autos das Fahren auf dem Weg unzumutbar machen. Auf die Straße ausweichen dürfen Radfahrer ausdrücklich auch, wenn kein benutzungspflichtiger Radweg ausgeschildert ist. Den vorhandenen Radweg – häufig in roter Farbe vom Gehweg abgesetzt – müssen Pedaleure nicht benutzen.
Gruppe ab 15 Radfahrern genießt Sonderstatus
Wer auf Nummer sicher gehen will, wird derweil zum Rudeltier. Mehr als 15 Radfahrer mit gemeinsamer Führung dürfen einen geschlossenen Verband bilden. Dann dürfen sie zu zweit nebeneinander auf der Fahrbahn fahren und werden als ein Fahrzeug betrachtet. Vorausgesetzt, sie bleiben eng genug zusammen. Querender Verkehr muss dann sogar an einer grünen Ampel warten, selbst wenn der hintere Teil dieser Gruppe Rot hat, der vordere Abschnitt des Verbands aber noch bei Grün über die Ampel fahren konnte. Ein extremes Beispiel dafür ist die organisierte Critical Mass, die aufgrund der Größe ihres Verbands regelmäßig weltweit Innenstädte lahmlegt.
Radschnellwege: Viele Pläne, wenige Kilometer
Konkrete Regeln sind gut, besser aber wäre es, in die innerstädtische Infrastruktur zu investieren. Dem kommt die StVO-Novelle insofern entgegen, als dass zusätzlich zu Fahrradstraßen ganze Fahrradzonen ermöglicht werden, in denen eine Höchstgeschwindigkeit von 30 Kilometern pro Stunde gilt und der Radverkehr weder gefährdet noch behindert werden darf. Eine nennenswerte Verbesserung ist die Entwicklung bei den Radschnellwegen. Anders als der Name vermuten ließe, geht es hier keineswegs um Trainingsstrecken für Rennradfahrer. Radschnellwege sind über längere Distanzen getrennt vom Autoverkehr geführte, möglichst kreuzungsfreie Radwege in hoher Qualität und großzügiger Breite, die es etwa Pendlern ermöglichen, zügig von A nach B zu kommen.
Unfallzahlen im Sommer höher
Wirklich vorangetrieben wurde dieses Projekt aber bislang nur vereinzelt. So bleibt es durch die Verkehrsführung vorerst dabei, dass es regelmäßig zum Aufeinandertreffen und zur Eskalation zwischen Fahrradfahrern und anderen Verkehrsteilnehmern kommt. Nicht immer bleibt es dabei bei Beschimpfungen. Die Unfallforschung der Versicherer (UDV) registrierte im Jahr 2018 in Deutschland außerorts 2.888 schwer verletzte Personen mit Beteiligung von Fahrrädern. Dabei muss nicht immer der Radfahrer verletzt worden sein. Jeder dritte Unfall war auf Querverkehr an Kreuzungen und Einmündungen zurückzuführen. Jeden Tag gab es also durchschnittlich acht Schwerverletzte mit Beteiligung von Fahrrädern. Da die Radsaison allerdings keine zwölf Monate dauert, liegt der Wert in der Hauptsaison im Sommer entsprechend höher.
LKW dürfen nur mit Schrittgeschwindigkeit rechts abbiegen
Noch dramatischer waren die Zahlen innerorts. 13.347 Schwerverletzte mit Beteiligung von Fahrrädern registrierte die UDV im Jahr 2018. Die höhere Quote resultiert unter anderem daraus, dass in der Stadt weitaus mehr Radfahrer unterwegs sind als außerorts. Auch hier sind Kreuzungen und Einmündungen Gefahrenpunkt Nummer eins. In zwei Dritteln der Fälle komme es zu Abbiegeunfällen. Hier soll die Novelle der StVO ebenfalls Abhilfe schaffen. Um schwere Rechtsabbiegeunfälle zu vermeiden, dürfen Lkw über 3,5 Tonnen nur mit Schrittgeschwindigkeit rechts abbiegen.
Hohe Dunkelziffer bei Unfällen
Die absoluten Unfallzahlen ergeben sich übrigens aus den durch die Polizei aufgenommenen Unfällen. Die Dunkelziffer dürfte höher liegen. Nicht jeder, der stürzt oder kollidiert, ruft die Polizei. Man geht davon aus, dass die Quote bei 4:1 liegt. Auf jeden Unfall, den die Polizei registriert, kämen so vier, die nicht gemeldet werden. Nicht aufschlüsseln lässt sich derweil, auf welchem Fahrrad und zu welchem Zweck die Verletzten unterwegs waren.
Gadgets sorgen für mehr Sicherheit – auch außerhalb der Radsaison
Um erst gar nicht in eine solche Situation zu geraten, können Radfahrer mit Gadgets für ihre eigene Sicherheit sorgen. In diesem Fall gilt: Mimikry und Mimese sind nicht gefragt, stattdessen auffallen um jeden Preis. Blinklichter etwa können dafür sorgen, dass Pedaleure bei einsetzender Dunkelheit von hinten besser wahrgenommen werden. Doch Vorsicht: Fest verbaut sind Blinklichter an Zweirädern verboten. Als zusätzliche Beleuchtung an Helmen oder Rucksäcken aber spricht nichts gegen das auffällige Gadget.
Der Klügere gibt nach
Radarwarnsysteme versprechen ebenfalls ein verbessertes subjektives Sicherheitsempfinden. In diesem Fall lässt sich der rückwärtige Verkehr aktiv anhand eines Radarsystems und eines Displays verfolgen. Bei nahenden Fahrzeugen leuchtet das Rücklicht intensiver und macht so noch starker auf den Radfahrer aufmerksam. Über allem steht ohnehin Paragraf 1 der StVO, der für das Aufeinandertreffen im gemeinsamen Lebensraum vorgibt: „Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.“ Das „Recht des Stärkeren“ wird also zur Interpretationssache. Stark ist nicht unbedingt derjenige, der auf sein Recht pocht. Sondern der, der im entscheidenden Moment auch mal nachgibt. Klug ist eine solche Entscheidung im Ernstfall allemal. Und sicher.