Es war eine Aussage, die mit Sicherheit für viele überraschte Gesichter sorgte, als Jan Frodeno vor dem Ironman Hawaii 2019 im triathlon–Interview ganz offen sagte, dass er Javier Gomez im Jahr zuvor innerlich bereits lang vor dem Rennen in Kona von seiner Liste der potenziellen Siegesanwärter verbannt hatte: „Bei Javier haben wir eigentlich drei Monate vorher schon gewusst, dass das nichts werden kann. Das Training? Da hätte es mich gewundert, wenn das funktioniert hätte. Also komplett Old School: 200 Kilometer Radfahren, 20-Kilometer-Koppelläufe und Hauptsache noch mal drauf.
35 Kilometer im Schnitt von 3:40 Minuten pro Kilometer und so lauter Zeug, das er da abgerissen hat. Was ja alles sehr beeindruckend ist, aber für den Renntag – siehe Lionel Sanders oder Terenzo Bozzone und solche Trainingsmaschinen – eben nicht funktioniert“, sagte Frodeno, der drei Tage später seinen dritten Hawaii-Sieg einfuhr.
Nach dieser Aussage des späteren Weltmeisters, die offensichtlich beinhaltet, dass er selbst auf eine ganz andere Weise trainiert, liegen mehrere Fragen auf der Hand: Wie genau unterscheidet sich das klassische Langdistanztraining von vor 15, 20 oder 30 Jahren von dem der heutigen Zeit? Was haben erfolgreiche Sportler wie beispielsweise Thomas Hellriegel, Normann Stadler oder Faris Al-Sultan damals anders gemacht als Jan Frodeno und andere Top-Athleten heutzutage? Welche Erkenntnisse, wissenschaftlichen Hintergründe und Veränderungen in der Mentalität der Athleten haben zu dem Wandel geführt, der in der Trainingsumsetzung stattgefunden hat?
Trainingsweltmeister oder Weltmeister des Trainings
Dass das Langdistanztraining der „alten Schule“ in erster Linie von extrem hohen Umfängen geprägt war und in dieser Form heutzutage kaum noch denkbar wäre, verdeutlichen beispielsweise Aussagen von Thomas Hellriegel, Ironman-Weltmeister von 1997 und einem der damals prominentesten Vertreter der Viel-hilft-viel-Philosophie: „Wir haben einfach jeden Tag fünf bis sieben Stunden trainiert. Da kam es im Trainingslager auch schon mal vor, dass wir auf Teneriffa 1.400 Radkilometer mit 35.000 Höhenmetern in einer Woche gefahren sind. Und auch in den normalen Wochen waren es etwa 20 Kilometer Schwimmen, 800 Kilometer Radfahren und 120 Kilometer Laufen. Das hat schon etwas gebracht. Man muss aber unterscheiden: Bringt es tatsächlich etwas fürs körperliche Training oder ist es einfach für den Kopf? Klar war ich nach so einer Woche auf Teneriffa drei Wochen lang tot, aber es war ja immer noch März und ich hatte genug Zeit, mich auf Roth vorzubereiten. Aber so haben die 180 Kilometer im Rennen ihren Schrecken verloren. Da haben wir auf Teneriffa ja jeden Tag mehr gemacht“, sagt der heute 48-Jährige zum damaligen Training. Und man kann heraushören: Es war eine Zeit der Trainingsweltmeister, denn mit dieser Einstellung und solchen Umfängen stand Thomas Hellriegel bei Weitem nicht alleine da.
„Ein bisschen Übertraining hat noch niemandem geschadet.“
Thomas Hellriegel – Ironman-Hawaii-Sieger 1997
In Hellriegels Aussagen steckt genau das, was Jan Frodeno auch auf Javier Gomez bezieht: Man trainiert(e) Kopf statt Körper, um die Angst vor der Distanz zu verlieren und Selbstvertrauen aufzubauen – gerade bei einem Langdistanz-Neuling oder Hawaii-Rookie wie Gomez nicht gerade unverständlich. Auch zahlreiche Agegrouper können sicherlich bestätigen, dass einige Trainingseinheiten nur mit dem Hauptziel oder den Hintergedanken absolviert werden, die Gesamt- oder Teilstrecken nicht mehr so unvorstellbar lang vorkommen zu lassen. Den Trainingsweltmeistern von damals stehen heute die „Weltmeister des Trainings“ gegenüber. Gemeint sind damit nicht etwa die Sportler, die im Training besonders viel machen oder extrem gute Leistungen erzielen, sondern in diesem Fall die Trainer, die heutzutage in der Lage sind, das Training so zu planen, dass nicht irgendwelche oder möglichst viele, sondern optimale und planbare Trainingsreize gesetzt werden.
Generationswechsel in der Trainingswissenschaft
Die Trainer der heutigen Zeit haben in den erfolgreichen Fällen meist einen wissenschaftlichen Hintergrund. Mit dem heutigen und deutlich ausgereifteren Kenntnisstand der Trainingslehre arbeiten sie gezielt an den relevanten physiologischen Parametern, die für die Langdistanz leistungsbestimmend sind. Die Trainingsintensitäten und -resultate werden dabei mit Tests, Diagnostiken und Software stets bis ins kleinste Detail geplant und ausgewertet. Damit stellen sie den kompletten Gegenpol zur damaligen Zeit dar. Das heutige Prinzip vieler Top-Athleten beziehungsweise deren Trainer: möglichst effektiv und smart trainieren anstatt möglichst viel. Oder noch deutlicher ausgedrückt: nicht mehr trainieren, als es für den optimalen Trainingsreiz notwendig ist. Eine Arbeitsweise, die es in den 80er-, 90er- oder Anfang der 2000er-Jahre aufgrund des fehlenden wissenschaftlichen Kenntnisstands in Kombination mit den teils mangelnden Analyse- und Testmöglichkeiten gar nicht geben konnte.
Dan Lorang, Trainer der beiden amtierenden Hawaii-Sieger Jan Frodeno und Anne Haug, ist wohl das Paradebeispiel für genau diese Arbeitsweise und Trainingsphilosophie, mit der er Frodeno seit seinem Umstieg auf die Langstrecken mittlerweile schon seit sieben Jahren betreut. Fragt man Lorang nach seiner Einschätzung zum Vergleich zwischen dem Langdistanztraining von damals zu seiner heutigen Trainingsphilosophie, fallen dem 40-Jährigen mehrere Aspekte ein: „Ein großer Unterschied ist sicherlich, dass man heutzutage viel mehr darüber weiß, wie Training wirkt, und die gewünschten Anpassungsprozesse dementsprechend auch gezielter ansteuern kann. Darüber hinaus denke ich, dass sich auch die Intensitätsverteilung im Training verändert hat. Bei den enormen Umfängen von damals war es quasi nicht mehr möglich, im hochintensiven Bereich zu trainieren und beispielsweise auch regelmäßig VO2max-Einheiten zu integrieren. Die Intensität im Training ist heute deshalb mit Sicherheit höher.“
Damals schon viel richtig gemacht, ohne zu wissen warum
Die Topresultate aus der Vergangenheit zeigen allerdings auch, dass das Training damals nicht total verkehrt gewesen sein kann. Warum das Niveau schon vor 20 Jahren auch ohne das neuste Equipment sehr hoch war, lässt sich im Nachhinein allerdings auch physiologisch begründen, wie Dan Lorang erklärt: „Neben diesen Veränderungen wurde damals aber auch schon vieles richtig gemacht. Allerdings ohne es zu wissen beziehungsweise ohne die Hintergründe genau zu kennen. Man darf nicht vergessen, dass heute trotz der höheren Intensität auch immer noch hohe Umfänge trainiert werden. Dann reden wir im Durchschnitt aber vielleicht von 25 bis 30 statt 40 oder mehr Stunden in der Woche. Das bekannte Motto ‚viel hilft viel‘ ist ja auch nicht verkehrt. Die leistungsbestimmenden Parameter bei einer Langdistanz sind der Fettstoffwechsel, die Laktatbildungsrate, die Ökonomisierung und die maximale Sauerstoffaufnahme. Heutzutage wissen wir, dass ein extrem umfangsbetontes Training all diese Faktoren verbessert, obwohl es in der Ergänzung mit der richtigen Intensität noch optimiert werden kann. Damals war der Gedanke, möglichst rennspezifisch zu trainieren, also stets sehr viel und sehr lang, weil es logisch erschien, dass man sich damit am besten auf die Rennanforderungen vorbereitet.“
„Seitdem ich mit Jan zusammenarbeite,
Dan Lorang – Trainer von Jan Frodeno
gibt es keine Monstereinheiten mehr.“
Bezieht man sich auf die ursprüngliche Aussage von Jan Frodeno zu den Trainingsbeispielen von Javier Gomez und nimmt Thomas Hellriegels Trainingslagererfahrungen hinzu, wird klar, dass sich die Unterschiede von „Old School vs. Neuzeit“ nicht nur bei den Umfängen und Intensitäten finden lassen. Auch bei der Planung der einzelnen Trainingseinheiten hat sich etwas Grundlegendes verändert – zumindest bei der Umsetzung von Dan Lorangs Training: „Seitdem ich mit Jan zusammenarbeite, gibt es keine Monstereinheiten mehr. Wir machen zum Beispiel keine langen Koppelläufe nach langen Radausfahrten. Das ist äußerst kritisch in Bezug auf die darauffolgende Regenerationsdauer und das potenzielle Verletzungsrisiko zu betrachten. Daher sollte so was nur äußerst dosiert zum Einsatz kommen und bei der Dauer und Intensität auf gar keinen Fall übertrieben werden. Viele unterschätzen oder wissen auch nicht, wie belastend und fordernd Koppelläufe generell sind. Das Training im Triathlon ist ein täglicher Prozess, der möglichst wenig unterbrochen werden sollte.
Bedenkt man, dass ein Marathon eine vollständige Regenerationsdauer von vier Wochen besitzt, bekommt man eine Vorstellung davon, was für eine Ermüdung sich aufsummiert, wenn man über einen längeren Zeitraum regelmäßig solche Einheiten absolviert und nach vier oder fünf Stunden auf dem Rad noch 20 bis 30 Kilometer läuft“, erklärt Lorang, der auch bei seinen Vorträgen für andere Trainer und Sportwissenschaftler stets davor warnt, sehr lange und intensive Einheiten gleichzeitig durchzuführen. Ein prominentes Beispiel dafür, dass eine solche Vorbereitung der sichere Weg ins Übertraining und damit zu einem enttäuschenden Wettkampfergebnis ist, ist Lionel Sanders: Der Kanadier absolvierte in seiner Hawaii-Vorbereitung 2016 insgesamt fünfzehnmal die gleiche Koppeleinheit – jeweils einmal in der Woche an einem festen Tag und indoor wohlbemerkt: vier Stunden all-out (bestmögliche Leistung) auf dem Rad, gefolgt von einem Halbmarathon in 1:18 bis 1:20 Stunden. Nachdem er damit Platz 29 beim Ironman Hawaii 2016 belegte und auf dem Rad weniger Watt trat als in allen 4-Stunden-Trainingsfahrten zuvor, gab Sebastian Kienle dem Kanadier einen Tipp, den Sanders im Nachhinein als einen der wichtigsten Ratschläge seiner Karriere bezeichnet: „Hör auf, jeden Tag einen Ironman zu machen.“
Eine Frage der Mentalität
Neben den rein sportlichen Veränderungen ist ein wohl mindestens genauso wichtiger Punkt die veränderte Mentalität der Athleten. Während früher der Wettkampf schon jeden Tag wieder aufs Neue im Training ausgetragen wurde und treu nach dem „Last-man-standing-Prinzip“ derjenige augenscheinlich am besten war, der entweder am meisten trainieren konnte oder im Training am schnellsten war, ist man sich heute stärker bewusst, dass diese Herangehensweise äußerst kontraproduktiv für die Leistungsentwicklung ist. „Es waren eben andere Zeiten und auch das Bild von einem Ironman war damals noch ein ganz anderes. Früher musste man schon im Training ein Ironman sein, weil alle diese Vorstellung im Kopf hatten. Jetzt, wo wir wissen, dass man quasi in der Pause schneller wird und dadurch erst die Anpassungserscheinungen stattfinden können, herrscht ein ganz anderes Bewusstsein. Heutzutage ist es okay, auch mal weniger zu machen oder im Zweifelsfall eine Einheit ausfallen zu lassen“, schätzt Dan Lorang ein. Setzt man ein bekanntes Zitat von Thomas Hellriegel dazu in Kontrast, wird sofort deutlich, was mit den unterschiedlichen Mentalitäten gemeint ist: „Ein bisschen Übertraining hat noch niemandem geschadet.“ Heute wäre es wohl umgekehrt und es würde heißen: „Ein Tag Pause hat noch niemandem geschadet.“
Dan Lorang ist unter anderem der Trainer von Jan Frodeno, Anne Haug und Justus Nieschlag. Seit 2016 betreut der ehemalige DTU-Bundestrainer hauptberuflich das deutsche Profi-Radsport-Team Bora-hansgrohe.
Dieser Artikel ist in der triathlon 175 erschienen. Hier geht es zur Übersicht der gesamten Ausgabe.