Dienstag, 3. Dezember 2024

„Es macht gerade keinen Spaß“

Jonas Deichmann ist ein unerschütterlicher Optimist. In jeder Situation sieht er zunächst das Positive. Vor diesem Hintergrund erhält die Bilanz der vergangenen Tage eine besondere Bedeutung. Geschwächt durch eine mittlerweile überstandene Lebensmittelvergiftung begann er Anfang der Woche seine Fahrt durch das sibirische Flachland. Eine Etappe, auf deren Herausforderung sich der Abenteurer vor seinem Triathlon rund um die Welt besonders gefreut hat. Nun fasste Deichmann zusammen: „Es ist die absolute Hölle.“

Eintönigkeit ist eine besondere mentale Herausforderung

Eine eintönige Landschaft, unbarmherziges Wetter und lebensgefährlicher Verkehr ergeben eine Mischung, die den 33-Jährigen vor eine besondere Probe stellt. Vor allem auch mental. „Es macht gerade keinen Spaß“, gibt Deichmann unumwunden zu. „Seitdem ich bei Tjumen den transsibirischen Highway erreicht habe, ging es 1.000 Kilometer nur geradeaus. Es gibt nichts, was irgendwie interessant ist oder sich verändert. Eine flache Sumpflandschaft mit ein paar Birkenwäldern und alle 50 bis 100 Kilometer kommen eine Tankstelle und ein Restaurant – und dann wieder nichts. Die pure Monotonie. Es ist schlimmer als auf dem Hometrainer. Und es gibt brutal viel Verkehr.“

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„Ich habe es gehasst“

Besondere die vergangenen beiden Tagen haben Deichmann alles abverlangt. Bei Dauerregen und tagsüber zwei Grad Celsius sorgte ein kräftiger Wind von vorn und von der Seite für schwierige Rahmenbedingungen. „Es kommt ein LKW nach dem anderen vorbei, es gibt nur einen kleinen Seitenstreifen von gerade einmal einem halben Meter. Ich habe da teilweise nicht mehr fahren wollen. Wenn der Wind von der Seite kommt und man in den Windschatten vom LKW gezogen wird, das ist lebensgefährlich.“ Deichmann aber wusste, was auf ihn zukommen würde. „Ich erinnere mich an das Gefühl bei meinem Eurasienrekord. Da bin ich auch auf diesem Abschnitt unterwegs gewesen. Ich habe es gehasst. Es ist noch flacher als bei meinem Triathlon rund um Deutschland im Norden.“

Irkutsk verspricht Besserung

Um sicher durch diese mentale Extremsituation zu steuern, hat Deichmann Strategien entwickelt. Bei einem kostenlosen Online-Vortrag am 15. April referiert er über Motivation und Mindset. „Es geht darum, wie man solche Challenges schafft“, erklärt er. Zum Beispiel mit positiven Gedanken an ein nahes Ziel. „Ich weiß, dass es kurz vor Nowosibirsk landschaftlich wieder schöner wird. Da beginnen die Wälder und es wird hügeliger. Der Verkehr wird ruhiger, weil dort viel Verkehr nach Kasachstan und in die Mongolei abbiegt. Richtig ruhig wird es dann ab Irkutsk.“ 500 Kilometer sind es noch bis dort. „Ich muss also noch zweieinhalb Tage durchhalten, dann wird es wieder besser.“

Wasserpfützen machen Schlafplatzsuche zur Odyssee

Auch die Bedingungen in der Nacht sind aktuell nicht einfach. „Vor zwei Tagen musste ich 25 Kilometer nach einem Schlafplatz suchen. Es gibt einfach nichts, weil hier alles ein riesiger Sumpf ist. Tagsüber haben wir Plusgrade, nachts wird es knackig kalt. Der Schnee schmilzt und gefriert also permanent. Da kannst du kaum das Zelt befestigen und du siehst nicht, was unter dem Schnee ist. Häufig finden sich da riesige Wasserpfützen. Es ist echt nicht einfach. Ich muss zum Schlafen ja weg vom Highway kommen. Wenn ich aber 50 Meter durch Sumpf und Schneematsch laufe, ist gleich alles nass. Das bereust du am nächsten Tag, wenn du mit nassen Füßen bei den Temperaturen hier fahren darfst.“

privat In guten Händen: Jonas Deichmanns Fahrrad wird von Mechaniker Denis repariert.

Neuer „Schmuck“ für „Esposa“

Immerhin „Esposa“ (Spanisch für Ehefrau) ist generalüberholt und hat neuen „Schmuck“ bekommen: Tretlager, Steuersatz, Schaltteile. „Mein Fahrrad hatte einiges abbekommen von den Überflutungen und Straßenverhältnissen in den vergangenen Wochen. Das habe ich in so kurzer Zeit auch noch nicht auf diese Weise erlebt. Ich war ja in Charkiw erst beim Komplettservice. Alle Lager waren komplett erodiert, an den Laufrädern, Teilen der Schaltung.“ Ein Mechaniker musste her. Den fand Deichmann am vergangenen Wochenende in Tscheljabinsk. „Ich habe vorher über Instagram gefragt, ob es einen gibt, der was kann. Er hat sich dann mein Rad angeschaut und sechs Stunden bis 22 Uhr am Samstagabend daran gearbeitet, damit ich am Sonntag weiterfahren konnte.“

Aufwärmen in der Sauna

Die ersten Kilometer hatte der Abenteurer Begleitung. „Ich habe in Tscheljabinsk offenbar eine größere Fangemeinde in der Triathlonszene. Alexej hat mich zu sich nach Hause eingeladen, wo er mit Frau und Kind wohnt. Er konnte Englisch und es war für mich ein bisschen Abwechslung zur normalen Routine. Alexej hat auch eine Sauna, eine russische Banja. Dort sind es 110 Grad, es ist trocken und man hat so komische Hüte auf. Es ist etwas anders als in einer deutschen Sauna. Aber es war super.“

privat Aufwärmen in der Sauna: Bei 110 Grad vergisst Jonas Deichmann kurzzeitig die sibirische Kälte.

Mit Rückenwind 258 Kilometer an einem Tag

Am Montag ging es aus Tscheljabinsk ins sibirische Flachland. „Ich bin zunächst raus auf den Highway, habe mich dann aber dazu entschieden, einen 35 Kilometer langen Umweg über kleine Straßen zu machen, anstatt über die Hauptroute durch Kurgan zu fahren. Das war schön. Ich bin durch viele Wälder auf kleinen asphaltierten Straßen gekommen und konnte richtig Gas geben. Ich habe 238 Kilometer geschafft, am Dienstag noch einmal 258, aber da hat auch der Wind ein bisschen geholfen.“

„Schnell wieder raus hier“

Spätestens am Mittwoch hielt die landschaftliche Tristesse Einzug. „Ich hatte auf 190 Kilometer 98 Höhenmeter – und die kamen durch eine Brücke über einen Fluss zustande.“ Am Donnerstag erreichte Deichmann Omsk, eine Millionenstadt. Die Weiterfahrt in Richtung Osten führte zunächst wieder über Schotterstraßen mit Schneematsch, ehe die Bedingungen besser wurden. Dann setzte der Regen ein, der die Monotonie der Landschaft noch verstärkte. „Ich habe lange darüber nachgedacht, was es Gutes über die Gegend hier zu erzählen gibt“, so Deichmann. „Die Leute sind nett, aber mehr fällt mir nicht ein. Du willst mit dem Fahrrad einfach nur schnell wieder raus.

Jonas Deichmann berichtet auf tri-mag.de regelmäßig von seinem Triathlon rund um die Welt. Weitere Informationen zu seinen bisherigen Abenteuern sowie ein Livetracker zu seinem Triathlon rund um die Welt finden sich auf seiner Website jonasdeichmann.com.

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Bengt Lüdke
Bengt Lüdke
Bengt-Jendrik Lüdke ist Redakteur bei triathlon. Der Sportwissenschaftler volontierte nach seinem Studium bei einem der größten Verlage in Norddeutschland und arbeitete dort vor seinem Wechsel zu spomedis elf Jahre im Sportressort. In seiner Freizeit trifft man ihn in Laufschuhen an der Alster, auf dem Rad an der Elbe – oder sogar manchmal im Schwimmbecken.

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