Was ist die Mittellinie der Straße und wie gehe ich im Rennen damit um? Diese Frage beschäftigt die Profis vor der Ironman-Weltmeisterschaft von Nizza. Als imaginärer Gast dabei: Lionel Sanders.

Die 180 Kilometer lange Radstrecke durch die Seealpen ist das Herzstück der Ironman-Weltmeisterschaften der Männer am Sonntag in Nizza. Und sie ist der Teil, der den größten Unterschied zum Rennen in Kona macht: schmaler, verwinkelter, mit langen Anstiegen und rasanten Abfahrten. Auf dem Queen Kaahumanu Highway, dem Radkurs an der Kona- und Kohala-Küste von Big Island, gab es zuletzt viele Diskussionen um die Anwendung des Regelwerks. Windschattenverstöße und Blockierungen wurden dort 2022 rigoros geahndet. Die über allem stehende Frage bei den Profis in Nizza ist dagegen: Was ist eine Mittellinie und wie gehe ich damit um?
Lionel Sanders als imaginärer Gast im Profi-Briefing von Nizza
Vor zwei Wochen kam es bei den Weltmeisterschaften über die Ironman-70.3-Distanz in Lahti (Finnland) zum Eklat, als der Kanadier Lionel Sanders disqualifiziert wurde – wegen des Überfahrens einer an dieser Stelle nicht vorhandenen Mittellinie, wohingegen andere, die sich im gleichen Rennen vor laufenden Kameras des gleichen Vergehens schuldig machten, nicht bestraft wurden. Ganz so einfach sei es jedoch nicht, wie Ironman-Offizielle nun in Nizza auf Anfrage von tri-mag.de klarstellten. Der Kampfrichter aus Estland habe nämlich gleich zwei Begründungen für die Disqualifikation vorgetragen: Einerseits habe Sanders den Straßenmittelpunkt an einer Stelle überfahren, wo der weitere Kursverlauf schwer einsehbar war, und damit sich und andere gefährdet. Außerdem habe er sich durch das Abkürzen bei hoher Geschwindigkeit einen Vorteil verschafft, den er nicht gehabt hätte, wenn er auf der richtigen Straßenseite geblieben wäre.
Und diese richtige Straßenseite gibt es immer, wie der Chefkampfrichter Daniel Palladino nun im Briefing der Profimänner von Nizza noch einmal betonte: „Es gibt immer eine korrekte und eine inkorrekte Seite der Straße“, so Palladino. Wenn das nicht klar durch einen Strich gekennzeichnet sei, dann gelte eben die imaginäre Mittellinie – sprich: der Mittelpunkt zweier Fahrspuren. Und den gibt es überall. Auch beim Anfahren von Haarnadelkurven, bei denen auch die Profis nicht die Fahrspur verlassen dürfen, um sie weiter nehmen zu können. „Da muss man eben langsamer fahren“, so der Kampfrichter.
Referees mit drei Optionen
Sollte ein Athlet diese reale oder imaginäre Mittellinie überfahren, hat ein anwesender Kampfrichter drei Handlungsoptionen: Er kann überhaupt keine Konsequenz daraus ableiten, eine gelbe Karte vergeben (was eine einminütige Zeitstrafe bedeutet, die in einem Penalty-Zelt bei Kilometer 80 oder 180 auf der Radstrecke verbüßt werden muss) oder eine Disqualifikation in die Wege leiten. Eine solche muss aber mit dem Chefkampfrichter Palladino, der in Nizza stationiert bleibt, abgeklärt werden, was zu erheblichen Verzögerungen in der Kommunikation führen kann. Man möchte aber diese Kommunikation an alle Beteiligten nun klarer gestalten – Ironman hat also aus den Vorkommnissen aus Kona und Lahti gelernt.
Jan Frodeno bringt Misstrauen zum Ausdruck
Daran bestehen unter den Profis jedoch offenbar Zweifel: Ob man denn nun ein Los ziehen müsse, um zu erfahren, welche der drei Konsequenzen man gewonnen habe, rief der dreifache Ironman-Weltmeister Jan Frodeno dazwischen und drückte damit das Misstrauen aus, das im Elitefeld offenbar gegenüber den Ironman-Kampfrichtern herrscht. Die Antwort: Die Konsequenzen lägen allein in der Sichtweise des Kampfrichters, in dessen Hände man sein Schicksal legen würde, wenn man die gute Seite der Straße verlasse. Man wisse sehr wohl, dass es manchmal sicherer sei, die Mittellinie zu überqueren: Wenn das Crossing tatsächlich besser für die Sicherheit sei, werde es nicht bestraft. Eine gelbe Karte (mit der Konsequenz der einminütigen Strafe) würde gezückt, wenn daraus ein unfairer Vorteil erzielt würde oder durch die Fahrweise der Athlet selbst, seine Konkurrenten, die Zuschauer oder der Verkehr gefährdet würden. Moment mal, Verkehr auf der Radstrecke einer Weltmeisterschaft? Zwar sei die Radstrecke für den Straßenverkehr komplett gesperrt, eine vollständige Garantie, dass sich keine Fahrzeuge auf der Strecke befänden, gäbe es aber nie. Und wenn der Verstoß so massiv, vorsätzlich oder wiederholt auftritt, resultiere das eben in der Disqualifikation.

Diskussion zwecklos?
Eine Diskussion über die Strafe sei allerdings zwecklos, wie die Kampfrichter noch einmal klar betonten: Die Athleten hätten die Karte zu akzeptieren und eine Zeitstrafe auf jeden Fall abzusitzen – ansonsten drohe allein deswegen die Disqualifikation, da durch Diskussionen auf der Strecke eine weitere Gefährdung entstünde. Schließlich seien die Kampfrichter ja da, um den Athleten einen sicheren und fairen Wettkampf zu ermöglichen – und nicht in erster Linie, um Disqualifikationen auszusprechen.
Einen Einspruch kann jeder Athlet später immer noch bis 15 Minuten nach seinem Zieleinlauf einlegen (wobei Zeitstrafen in keinem Fall wieder abgezogen würden). Einem Zieleinlauf übrigens, bei dem der Oberkörper bedeckt sein muss und die Enden eines Reißverschlusses eingefädelt. Aber das ist noch einmal eine ganz andere Geschichte …