Donnerstag, 25. April 2024

Warum Chrissie Wellington um ihre Weltbestzeit bangen muss (und Familie Walchshöfer den Ironman rettet)

Das Triathlonjahr 2023 wird anders. Über allen Prognosen für den Saisonverlauf schwebt die Auslagerung des WM-Männerrennens von Ironman von Kona nach Nizza, in der viele den Anfang vom Ende des Ironman Hawaii sehen. Ausgerechnet aus dem Frankenland kommt Schützenhilfe.

Chrissie Wellington siegt bei der Challenge Roth 2011 in Weltbestzeit.
Michael Rauschendorfer Chrissie Wellington siegt bei der Challenge Roth 2011 in Weltbestzeit.

Wir befinden uns im Jahre 2023 n. Chr. Die ganze Triathlonwelt wird von Amerikanern besetzt … Die ganze Triathlonwelt? Nein! Ein von unbeugsamen Franken bevölkertes Dorf hört nicht auf, den Investoren Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für die amerikanischen Geschäftsleute, die als Besatzung in den befestigten Lagern Frankfurt, Klagenfurt, Thun und nun auch Nizza liegen …

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Vor 21 Jahren begann in Deutschland eine neue Zeitrechnung. Im Jahr 2002 wanderte die Ironman-Lizenz von Roth nach Frankfurt, im Frankenland begann die Ära der Challenge-Rennen. Gab es in den ersten Jahren noch viel Streit, Missgunst und sogar Reißzwecken in der öffentlichen Auseinandersetzung um die Rennen, so ist es inzwischen ruhiger geworden. Beide Rennen haben ihren Markt und ihre Nischen bei den Agegroupern. Und auch bei den Profis.

Vom Altenheim aufs Podium

Der Stellenwert des Ironman Frankfurt ist durch die Entscheidung, die Europameisterschaften nur noch für ein Geschlecht austragen zu können, nicht besser geworden. Und in Roth ist es eine unausgesprochene Ambition, möglichst das komplette Hawaii-Podium beider Geschlechter an den Start zu bekommen. Neben Antrittsgeldern wird dabei vieles von dem in die Waagschale geworden, was das Rennen auch für die Agegrouper attraktiv macht. Die Profis übernachten beispielsweise nicht im offiziellen Rennhotel wie an jedem anderen Wochenende der Saison, sondern entweder in einem Anwesen im Wald wie der neue fränkische Publikumsliebling Patrick Lange, im Kinderzimmer einer Gastfamilie wie Sebastian Kienle oder im Altenheim wie Anne Haug.

2023 wird nicht nur die Ironman-EM an zwei Orten ausgetragen (die Männer starten in Hamburg und die Frauen in Frankfurt), sondern erstmals auch die WM: Die Männer gehen am 10. September in Nizza ins Rennen, die Frauen am 14. Oktober auf Hawaii. Eine Abwertung des Frauenrennens, behaupten Kritiker. Dafür, dass es anders kommen könnte, sorgt auch die Familie Walchshöfer mit ihrem Rennen in Roth.

Drei der besten Vier von Hawaii am Start

Gestern wurde in Roth das diesjährige Elitefeld der Frauen verkündet: Ironman-Weltmeisterin Chelsea Sodaro kommt, um das innerdeutsche Battle zwischen der fränkischen Lokalmatadorin Anne Haug (3. auf Hawaii), die jüngst ihren 40. Geburtstag feierte, und der Herausforderin Laura Philipp (4. auf Hawaii) aufzumischen. Aus dem schnellsten Quartett von Kona fehlt (bisher) nur die Britin Lucy Charles-Barclay, die sich das Spektakel in Roth aber anschauen wird, um ihren Mann Reece im Männerfeld zu supporten. Dafür ist die Weltmeisterin des Frühjahrs 2022 aus Utah, Daniela Ryf, dabei – sechs Jahre nach ihrem Roth-Sieg von 2017, den sie vor allem einer Radzeit von 4:37 Stunden verdankte.

Anne Haug hat schon bewiesen, wie schnell sie in Roth sein kann, während Laura Philipp im vergangenen Jahr gegen Roth gefightet hat. Und zwar gegen die Challenge Roth des Jahres 2011, als Chrissie Wellington die bis heute geltende Weltbestzeit aufgestellt hatte. Wellingtons 8:18:13 Stunden von Roth 2011 und Philipps 8:18:20 Stunden vom Ironman Hamburg 2023 sind die beiden schnellsten Zeiten, die je über die Distanz von 3,8 Kilometern Schwimmen, 180 Kilometern Radfahren und 42,195 Kilometern Laufen aufgestellt wurden.

Und Laura Philipp hat Hunger auf mehr: Neben der fränkischen Gastfreundschaft wird die letztjährige Nähe zum Wellington-Rekord ein ausschlaggebendes Kriterium für den Start in Roth am 25. Juni für die dann 36-Jährige gewesen sein. Und die Chancen, dass die Bestmarke fallen wird, sind groß – aus vielen Gründen.

Frank Wechsel / spomedis Immer wieder ein berauschender Anblick: Triathleten in Roth am Beginn ihrer langen Reise.

Das Schwimmen

Die Schwimmstrecke in Roth ist schnell, da durch die Zwei-Wendepunkt-Strecke im Main-Donau-Kanal die Orientierung wegfällt. 49:49 Minuten war Chrissie Wellington im Jahr 2011 unterwegs, 52:11 Minuten war Haug bei ihrem Start 2021 unterwegs – das ist keine Welt, doch 2022 brauchte Haug mehr als acht Minuten länger. Wichtig für den Rennverlauf: Im Oktober auf Hawaii trennten Haug und Philipp beim Schwimmen ganze fünf Sekunden. Das deutsche Duo dürfte sich damit wahrscheinlich auf die Jagd nach der Ironman-Weltmeisterin Chelsea Sodaro machen, die auf Hawaii drei Minuten schneller unterwegs war. Auch Daniela Ryf schwimmt in dieser Größenordnung. Dass die Überschwimmerin Lucy Charles-Barclay nicht gemeldet ist, könnte ein Vorteil für die Renndynamik sein.

Das Radfahren

Die Radstrecke in Roth ist schnell, die 1.200 Höhenmeter lohnen sich: Auf überschaubare Anstiege folgen lange gut rollende Abfahrten. Nicht umsonst wurden hier zahlreiche Weltbestzeiten aufgestellt, nicht nur durch Chrissie Wellington bei den Frauen, sondern auch durch Andreas Raelert und Jan Frodeno bei den Männern. Einziger Knackpunkt ist der Zwei-Runden-Kurs und damit die Überholvorgänge der Profis gegenüber den Agegroupern. Chrissie Wellington war 2011 auf dem Rad 4:40:39 Stunden unterwegs, Anne Haug im Vorjahr 4:33:45 Stunden. Laura Philipp in Hamburg 4:31:14 Stunden – gut vier Minuten schneller als Chelsea Sodaro bei ihrer damaligen Ironman-Premiere. Dass sich seit 2011 auf dem Materialsektor viel getan hat, ist offensichtlich – ebenso wie die Tatsache, dass die Frauen die damalige Lücke zu den Männern in der Anwendung des Equipments inzwischen geschlossen haben. Anders als vor einem Jahrzehnt sind Dinge wie Tuning, Bikefitting und die Besuche im Windkanal keine Männerdomäne mehr.

Das Laufen

Dass die Laufstrecke in Roth auch nach der Einführung des Streckenabschnitts nach Büchenbach schnell ist, haben seither viele Rennen bewiesen. Auch 2022 wurden Spitzenzeiten erzielt, obwohl die langen Geraden am Main-Donau-Kanal erst wenige Tage vor dem Rennen überarbeitet wurden und der Untergrund des Schotterwegs noch nicht wieder betonfest war. Laufschuhe wie das Adidas-Modell, das Patrick Lange im November in Israel zu einer Splitzeit von 2:30:32 katapultiert hat, sind in diesem Jahr zwar verboten. Doch die Laufschuhindustrie hat seit ein paar Jahren eine neue Dynamik in Sachen Erfindungsreichtum angenommen – der Schuh der Siegerin 2023 wird ein anderer sein als der einer Chrissie Wellington 2011. Schauen wir auch hier auf die Splits: Wellington lief 2011 den Marathon in 2:44:35 Stunden, Haug in Roth 2022 in 2:46:04 Stunden eineinhalb Minuten langsamer. Philipp rannte in Hamburg 2:45:39 Stunden, während Sodaro dort in 3:00:21 Stunden über der Drei-Stunden-Marke blieb, die sie dann auf Hawaii aber in 2:51:45 Stunden deutlich unterbot.

Frank Wechsel / spomedis Anne Haug ist die letzte Siegerin der Challenge Roth.

Der Fokus

Das Männerfeld in Roth ist wahrscheinlich das beste, das im Jahr 2023 auf einer Langdistanz zusammenkommen wird. Selbst Nizza kann die Konstellation in der Spitze kaum noch toppen, da sowohl in Franken als auch in Frankreich die Norweger fehlen werden. Auch Jan Frodeno, dessen Saisonplanung mit Spannung erwartet wird, steht nicht auf der Startliste in Roth. Das kann – bei aller Exzellenz des Männerfelds und auch den hier möglichen Bestzeitkonstellationen – den Fokus zugunsten der Frauen verschieben und die Konzentration von Publikum und Medien schon im Vorfeld des Renntags auf die Jagd der vier Hauptprotagonistinnen auf Chrissie Wellington ermöglichen. Und das dürfte Folgen haben.

Die schnellsten Zeiten der Frauen in Roth

RangNameJahrGesamtzeitAnmerkung
1Anne Haug (GER)20217:53:48Verkürzte Radstrecke
2Chrissie Wellington (GBR)20118:18:13Aktuelle Weltbestzeit
3Chrissie Wellington (GBR)20108:19:13
4Daniela Ryf (SUI)20168:22:04
5Anne Haug (GER)20228:22:42
6Lucy Charles-Barclay (GBR)20198:31:09
7Chrissie Wellington (GBR)20098:31:59
8Mirinda Carfrae (AUS)20148:38:53
9Rebekah Keat (AUS)20098:39:24
10Daniela Ryf (SUI)20178:40:03

Die Folgen

Ein Rekordrennen in Roth könnte den Frauensport Triathlon auf ein neues Level heben. Die Professional Triathletes Organisation (PTO) und andere werden die Geschichten weitererzählen – von Chelsea Sodaro als Mutter einer Tochter (die spannende Erzählung ihrer Karriere erscheint am 15. Februar in der triathlon 208), von Laura Philipp, die sich mit ihrem Storytelling für den Dreiklang aus Sport, Weiblichkeit und Natur einsetzt, und von Kämpferin Anne Haug, die den Beweis antreten kann, dass Weltspitze keine Frage des Alters, sondern des Willens und Commitments ist.

Und das wird bis in den Oktober nachhallen, wenn der Rauch um das Männerrennen der Ironman-Weltmeisterschaften von Nizza am 10. September längst verflogen ist. Wenn die Frauen am 14. Oktober in Kailua-Kona an den Start gehen, haben sie erstmals die gesamte Aufmerksamkeit für sich. Ironman hatte im vergangenen Jahr zwei Renntage versprochen, einen davon exklusiv für die Frauen. Das erste Versprechen konnten die Amerikaner nicht halten – umso mehr Mühe werden sie sich geben, das zweite richtig zu zelebrieren. Schon eine Chrissie Wellington stand im Pazifik auch deshalb im Fokus, weil sie zuvor Roth gerockt hatte. Und so könnte die geschickte Athletenakquise der Familie Walchshöfer am Ende der Steigbügelhalter für Ironman werden, aus der Niederlage des Verlusts eines Renntags einen positiven Nutzen zu ziehen.

Ob dann beim Schlussbankett auf dem Parkplatz des King Kamehamea Kona Beach Hotels auch ein Barde an einen Baum gefesselt wird? Wir werden berichten. Das Triathlonjahr 2023 wird anders.

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17 Kommentare

  1. Sehr schöner Artikel. Schade für mich, dass ich auf 2024 verschieben musste ( xtri- Rennen lassen sich leider nur schwer planen, da immer eine Lotterie zur Teilnahme notwendig ist). Aber das Feld ist der Hammer und gerade die Damen verdienen jede Aufmerksamkeit. Ich befürchte aber ganz das Gegenteil für Kona, da in Roth dann schon so eine Art WM war. Weltbestzeit wird fallen und bis vielleicht kommt ja LCB auch noch. Dann braucht kein Mensch mehr nach Kona zu fliegen.

  2. Bei „Triathlon“ gehen Schweizer und österreichische Athleten vielfach unter und werden vergessen.

    Ich habe an gleicher Stelle oder in E-Mails schon einige Male darauf hingewiesen auch extra eine oder zwei Seiten für die Schweiz und Österreich zu machen. Es scheint aber niemand zu interessieren bei „Triathlon“.
    Ich mache nun schon seit 34 Jahren aktiv Triathlon und habe diverse Triathlonagazine aus Deutschland gelesen. Mein Gefühl sagt, dass es noch nie wenig Interesse aus DE gab an CH- und AT-Athleten und Veranstaltungen oder Stories aus den beiden Ländern – Schade und ich bin auch ein bisschen enttäuscht.

  3. Das ist schon der Wahnsinn! Männer wie Frauen.
    Was sich mir aber nicht ganz erschließt, wie das Starterfeld von Roth den Ironman retten soll. Egal, freu mich meeega aufs Rennwochenende und bin fast etwas traurig dass ich nicht zuschauen kann.
    Liebe Grüße und schönes Wochenende!

    • Es bestand die Sorge, dass nach Nizza niemand mehr auf Hawaii schaut. Wir haben über die Männer- und Frauenrennen in Kona immer gleichwertig berichtet, obwohl wir wussten, dass die messbare Aufmerksamkeitsverteilung eher bei 70/30 lag. Der mögliche Fünfkampf in Roth um die Weltbestzeit könnte das Thema Frauen-Weltspitze wieder so sehr in den Fokus rücken, dass die Welt mit Spannung auf das Rematch in Kona wartet.

      Lass uns das doch genauso machen: Wir beiden batteln uns am Kanal um jeden Meter und verkaufen den Rückkampf im November in Cozumel an RTL und BILD.

      Vorfreudige Grüße, auf einen großartigen 25. Juni!
      Frank

      • Danke für die Aufklärung.
        Also eigentlich wollte ich nach Roth erstmal keine Langdistanz mehr machen. Aber wenn du einen Deal einfädelst, dass wir auf Kosten von RTL / BILD in Cozumel starten, dann verlängere ich meine LD-Karriere für unseren Rückkampf! Jetzt werd du aber erstmal fit. Ich trete nicht gegen Konkurrenten mit Trainingsrückstand an 😉

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Frank Wechsel
Frank Wechsel
Frank Wechsel ist Herausgeber der Zeitschriften SWIM und triathlon. Schon während seines Medizinstudiums gründete er im Oktober 2000 zusammen mit Silke Insel den spomedis-Verlag. Frank Wechsel ist zehnfacher Langdistanz-Finisher im Triathlon – 1996 absolvierte er erfolgreich den Ironman auf Hawaii.

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