Es ist eine Zeitrechnung, die für Tausende Topathleten in den verschiedensten Sportarten gilt: vier Jahre, ein Olympiazyklus. Eine Zeitrechnung, die am 24. März 2020 außer Kraft gesetzt wurde. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) gibt nach langem Zögern bekannt, dass die Olympischen Spiele in Tokio vom 24. Juli bis 9. August 2020 um ein Jahr auf den Zeitraum vom 23. Juli bis 8. August 2021 verschoben werden. Erst nachdem Japans Ministerpräsident Shinzo Abe das IOC aufgrund der aktuellen Situation und ungewissen Entwicklung rund um die Corona-Pandemie explizit um diesen Schritt bittet, willigt es ein. Zuvor hält das Komitee um Präsident Thomas Bach trotz der globalen Ausnahmesituation und den daraus resultierenden Konsequenz für Profisportler, die aufgrund von Ausgangsbeschränkungen teilweise gar nicht mehr oder nur äußerst begrenzt trainieren können, an der geplanten Durchführung fest. Eine Einstellung und Kommunikationsführung, die zur Folge hat, dass sich zahlreiche Verbände und Länder für eine erstmalige Verschiebung der Olympischen Sommerspiele aussprechen. Nicht nur das: Die amerikanischen Leichtathletik- und Schwimmverbände kündigen an, dass sie unter diesen Umständen selbst bei einer Durchführung keine Athleten zu den Spielen schicken werden. Aussagen, die den öffentlichen Druck auf das IOC zwar massiv erhöhen, jedoch nicht ausschlaggebend für die letztendliche Entscheidung sind. In Verbindung gebracht wird die scharf kritisierte Hinhaltetaktik des IOC, die Anfang und Mitte März für enorme Ungewissheit bei vielen Athleten sorgt, an vielen Stellen damit, dass die hohen wirtschaftlichen Konsequenzen geringer ausfallen würden, wenn das Event durch eine Entscheidung der japanischen Regierung und nicht allein durch das IOC selbst verschoben wird. Denn geschätzt werden die Zusatzkosten der Verschiebung auf etwa 300 Milliarden Yen, umgerechnet 2,56 Milliarden Euro. Kosten, die sich die japanische Regierung und das IOC nun nach eigener Aussage gemäß der vereinbarten Auflagen teilen werden.
Auch wenn Japan nicht selbst verantwortlich für die Gründe der Verschiebung ist, ist diese Entscheidung aus einem historischen Blickpunkt gerade für die japanische Hauptstadt besonders bitter: 1936 erhielt Tokio als erste nicht europäische oder amerikanische Stadt zwar zunächst den Zuschlag für die Austragung der Olympischen Sommerspiele 1940, gab dieses Vorrecht während der Planung und Bauprozesse am 16. Juli 1938 allerdings wieder an das IOC zurück, weil die Vorbereitungen nicht im geforderten Zeitrahmen umgesetzt werden konnten. Als neuer Austragungsort wurde Helsinki festgelegt, bevor die Spiele 1940 aufgrund des Zweiten Weltkrieges komplett abgesagt wurden.
Konsequenzen und erste Antworten für den Triathlon
Auch die weltbesten Triathleten auf der Kurzstrecke haben in den vergangenen vier Jahren ihre Planung, das Training und den Großteil ihres Lebens auf den 27. oder 28. Juli 2020 ausgerichtet – die Termine der Einzelrennen bei den Olympischen Spielen 2020. Nach den Rennen der Männer und Frauen hätte am 1. August 2020 zudem erstmals bei den Olympischen Spielen das neue Mixed-Team-Relay-Format als drittes olympisches Triathlonevent im Programm stattfinden sollen. Als Folge der Coronakrise sagt auch die International Triathlon Union (ITU) im April frühzeitig alle Rennen der World Triathlon Series 2020 (WTS) ab. Für die ITU und alle Nationen ist außerdem klar, dass sie an den bisherigen Qualifikationskriterien für die noch zu besetzenden Startplätze nicht mehr festhalten können – mindestens eine zeitliche Anpassung ist notwendig. Es herrscht für mehrere Wochen Ungewissheit, ob die Athleten, die für 2020 bereits die jeweiligen internationalen und nationalen Qualifikationskritierien erfüllt haben, ihr Startrecht behalten würden. Aus dem deutschen Team, das sich durch die Resultate der Mixed-Staffel bei Frauen und Männern jeweils zwei von 55 Startplätzen pro Einzelrennen gesichert hat, haben Laura Lindemann und Jonas Schomburg durch ihre Platzierungen beim Olympia-Testevent in Tokio 2019 die damaligen Nominierungskriterien der Deutschen Triathlon Union (DTU) erfüllt. „Für mich wäre es optimal, mich ohne erneuten Qualifikationsdruck auf das Rennen in Tokio vorbereiten zu können. Wenn sich daran jetzt noch was ändern sollte, fände ich es nicht gut, aber ich muss damit dann klarkommen. Aktuell sehe ich mich als leistungsstärkste deutsche Frau auf der Sprint- und olympischen Distanz und muss mich vor Vergleichen nicht fürchten“, schätzt Laura Lindemann auf Nachfrage ihre Situation zur damaligen Zeit ein. Am dritten Mai gibt es schließlich erste Gewissheit. In einem überarbeiteten Dokument der ITU werden die neuen Qualifikationskriterien bestimmt, mit denen auch die jeweiligen Nationen neu planen können. Dr. Jörg Bügner, Leistungssportdirektor der DTU, ordnet die neue Lage aus deutscher Sicht ein: „Die ITU hat in der Überarbeitung inhaltlich keine Veränderungen vorgenommen, es werden lediglich die Qualifikationszeiträume angepasst, wobei diese noch nicht genannt wurden. Sollte auch in 2021 lediglich ein weiteres Qualifikationsrennen für die Staffeln ausgetragen werden, hätte sich die DTU über die Staffel für die Olympischen Spiele qualifiziert und demnach weiterhin jeweils zwei Quotenplätze männlich wie weiblich“, sagt er und fügt hinzu: „Dann müssten Laura Lindemann und Jonas Schomburg am 31. März 2021 eine Platzierung unter den besten 35 im Olympic Qualification Ranking (OQR) der ITU nachweisen, um von der DTU dem DOSB zur Nominierung vorgeschlagen zu werden.“
Die beiden verbleibenden Olympiastartplätze im deutschen Team für die diesjährige Austragung sollten ursprünglich in einem internen Supersprint-Triathlon über 300 Meter Schwimmen, 6,7 Kilometer Radfahren und 1,9 Kilometer Laufen am 28. Mai 2020 in Kienbaum bestimmt werden. Alle infrage kommenden Athleten sollten dabei getrennt voneinander starten und der jeweils schnellste Athlet bei den Frauen und Männern hätte sich qualifiziert. Wie Dr. Jörg Bügner gegenüber triathlon mitteilte, werde sich trotz der diesjährigen Absage des internen Events grundsätzlich auch an der Vergabe der beiden derzeit noch nicht besetzten Plätze nichts ändern: „Angesichts der inhaltlichen Fortschreibung der Qualifikationskriterien durch die ITU halten wir im Sinne der Transparenz und Nachhaltigkeit an unseren bisherigen Nominierungskriterien fest.“ Die Herangehensweise von ITU und DTU deckt sich also: Alle bisherigen Kriterien und Planungen werden nach Möglichkeit im Sinne der Athleten nicht mehr verändert und verkompliziert, sondern – wie auch die Spiele selbst – einfach nur um ein Jahr nach hinten geschoben.
Eine Situation, die alle (anders) trifft
Obwohl die massiven Einschränkungen des öffentlichen Lebens in Form von geschlossenen Trainingsstätten, Physiotherapie-Praxen, dem Verbot von gemeinsamen Trainingsgruppen sowie den grundsätzlichen Ausgangsbeschränkungen auch im Triathlon weltweit für einen enormen Eingriff in den Trainingsalltag gesorgt haben (und teils auch weiterhin sorgen), gibt es Athleten, die die Verschiebung der Olympischen Spiele härter trifft als andere. Während einige von ihnen womöglich sogar davon profitieren können. Ein Unterschied in der bisher noch nie zuvor dagewesenen Lage besteht aus sportlicher Sicht bei den Profiatheten darin, dass einige Athleten trotz aller Einschränkungen weiterhin Möglichkeiten für das Schwimmtraining haben, während andere bereits sechs bis acht Wochen gar nicht mehr im Wasser waren. Ein Umstand, der sich aber vermutlich im Laufe der Monate für die Spiele selbst als nicht allzu entscheidend herausstellen wird. Wie Jonas Schomburg, der sich diesbezüglich relativ gelassen gibt, betont, gibt es auch Athleten, die in dieser Zeit nicht nur Probleme mit dem Schwimmen haben: „Ich hatte zwar im Gegensatz zu anderen Athleten vier Wochen lang keine Möglichkeit zum Schwimmen. Dafür durfte ich aber draußen in der freien Natur Rad fahren und laufen“, sagt der 26-Jährige im Hinblick darauf, dass einige Athleten, beispielsweise in Italien oder Spanien, zwischenzeitlich wochenlang ausschließlich auf Training in den eigenen vier Wänden angewiesen waren. Nationalmannschaftskollegin Laura Lindemann kann der neuen Situation sogar etwas Positives abgewinnen: „Ich kann jetzt noch mal ordentlich Umfänge und spezielle Dinge trainieren und komme richtig gut mit meinem Studium voran. Ansonsten werden wir nach der Saisonpause den gleichen Plan, den wir in diesem Jahr umsetzen wollten, wieder angehen“, sagt sie und fügt hinzu: „Ärgerlich war und ist, dass ich meine Form nicht testen konnte. Ich war im Schwimmen und im Laufen richtig, richtig gut drauf.“
Gewinner und Verlierer des fünften Jahres
Zu den „Gewinnern“ beziehungsweise den Sportlern, die 2021 nach dem zusätzlichen Jahr eher bessere Chancen auf eine Topplatzierung bei den Spielen selbst oder überhaupt eine Qualifikation für die noch zu besetzenden Startplätze haben, gehören insbesondere junge Athleten. Ein erfolgreiches Trainingsjahr mehr könnte bei einigen Athleten mit Anfang 20 für einen weiteren Leistungssprung sorgen und Medaillenchancen unter Umständen sogar erhöhen. Bei den Männern könnte dies beispielsweise auf den Neuseeländer Hayden Wilde (23) oder den laufstarken Briten Alex Yee (22) zutreffen, bei den Frauen auf die beiden Französinnen Cassandre Beaugrand (23), die als eine der stärksten Läuferinnen ihre Probleme derzeit noch auf dem Rad hat, und die amtierende U23-Weltmeisterin Emilie Morier. Aber sogar bei optimalem Training fehlen auch diesen Athleten über eine lange Zeit die Wettkämpfe und damit auch wichtige Erfahrung, Rennpraxis und direkte Vergleiche mit den Konkurrenten, die ebenfalls ein ausschlaggebender Punkt für Topresultate bei den Olympischen Spielen sind.
Ein Verlierer der Verschiebung dürfte hingegen der fünfmalige Kurzdistanz-Weltmeister und Olympiazweite von 2012 sein: Javier Gomez. Dem Spanier, der durch eine Verletzung die Olympischen Spiele 2016 verpasste und nach seinem Ironman-Hawaii-Debüt 2018 im vergangenen Jahr mit 36 Jahren überraschend auf die Kurzstrecke zurückkehrte, fehlt in seiner beachtlichen Medaillensammlung auf der Kurzstrecke nur noch die lang ersehnte Goldmedaille bei den Olympischen Spielen. Aufgrund seines Alters und des vorangegangenen Langdistanztrainings waren seine starken Resultate und Gesamtplatz drei in der WTS 2019 für viele bereits eine Überraschung. Gomez bewies nach seinem Umstieg eindrucksvoll, dass man ihn auf der olympischen Distanz nicht vom Zettel der Siegesanwärter streichen sollte. Für ihn wird es jedoch eine große Herausforderung sein, dieses hohe Niveau auf den kurzen Strecken noch ein weiteres Jahr verletzungsfrei aufrechtzuerhalten. Beim Olympiarennen wäre Gomez 38 Jahre alt – und damit fünf Jahre älter als der bisher älteste männliche Olympiasieger im Triathon: Hamish Carter, der 2004 in Athen im Alter von 33 Jahren gewann. Zeitgleich bedeutet es für Gomez, dass ihm zusätzlich mindestens eine Chance beim Ironman Hawaii verwehrt bleibt, für den er ebenfalls bereits qualifiziert ist. Ein Sieg beim Ironman Hawaii würde ihn nach seinem endgültigen Abschluss auf der Kurzstrecke ebenfalls antreiben, wie Gomez vor der Coronakrise in einem Interview verriet. Gleichzeitig wisse er nicht, ob ihm die Zeit zwischen den Spielen und Hawaii reichen würde, um sein Startrecht noch im gleichen Jahr überhaupt wahrzunehmen, da er sich mit dieser unzureichenden Vorbereitung keine optimalen Chancen ausrechnen könne.
Spiel auf Zeit für Olympiasieger Alistair Brownlee
Ein ähnliches Szenario wie bei Javier Gomez gibt es auch beim amtierenden Doppel-Olympiasieger Alistair Brownlee: Der 32-Jährige wagte sich nach seinem zweiten Olympiasieg in Rio de Janeiro in den vergangenen Jahren vermehrt auf die längeren Strecken und gab 2019 nach zwei bereits erfolgreichen Jahren auf der Mitteldistanz sein Langdistanz-Debüt. Nach seiner durchwachsenen Hawaii-Premiere 2019 bewies er nur wenige Wochen später mit seinem Sieg beim Ironman Western Australia in 7:45:21 Stunden, dass er wohl auch auf der Langstrecke eine große und erfolgreiche Zukunft haben kann. Trotz der damit eingetüteten Hawaii-Quali gab Alistair Brownlee bekannt, dass er definitiv in Tokio zum vierten und letzten Mal bei den Olympischen Spielen an den Start gehen will, bevor er sich endgültig auf die Langstrecke fokussiert. Die Entwicklung von einem Ironman-Sieg im Dezember zu einem optimal vorbereiteten Olympiastart mit Medaillenchancen im darauffolgenden Juli hätte ihm wohl viel abverlangt und wäre eine große Herausforderung geworden. Nun bekommt der Brite ein Jahr länger die Möglichkeit, sich noch einmal bestmöglich und ohne Zeitdruck auf die Spiele vorzubereiten. Ein Umstand, der ihm im Hinblick auf die eigenen Chancen in die Karten spielen könnte.
Neben den neuen und bereits laufenden Planungen seitens der Athleten, des IOC und des Gastgeberlands Japan für den neuen Termin im kommenden Jahr gibt es bereits vereinzelte Experten-Stimmen, die sogar eine Durchführung im Jahr 2021 anzweifeln. Der Leiter des Organisationskomitees für die Olympischen Spiele in Tokio, Yoshiro Mori, sagt dazu, dass die Spiele eher abgesagt als noch einmal um ein weiteres Jahr verschoben würden. Japans Premierminister Shinzo Abe konkretisiert diese Aussage vor dem Parlament in Tokio: „Wir müssen die Olympischen Spiele als Beweis für den Sieg der Menschheit über das Coronavirus abhalten. Wenn wir nicht in einer solchen Situation sind, wird es schwierig, die Spiele durchzuführen.“ Demnach scheinen noch einige weitere Monate voller Ungewissheit vor allen Beteiligten zu liegen.
Dieser Artikel ist in der triathlon 180 erschienen. Alle Ausgaben der Zeitschrift gibt es in unserem Shop unter tri-mag.de/produkt-kategorie/zeitschriften/ oder in der triathlon-App.